Kant: AA VI, Die Metaphysik der Sitten. ... , Seite 478 |
|||||||
Zeile:
|
Text (Kant):
|
|
|
||||
01 |
|
||||||
02 | Was nun die doctrinale Methode betrifft (denn methodisch mu | ||||||
03 | eine jede wissenschaftliche Lehre sein; sonst wäre der Vortrag tumultuarisch): | ||||||
04 | so kann sie auch nicht fragmentarisch, sondern muß systematisch | ||||||
05 | sein, wenn die Tugendlehre eine Wissenschaft vorstellen soll. | ||||||
06 | Der Vortrag aber kann entweder akroamatisch, da alle Andere, welchen | ||||||
07 | er geschieht, bloße Zuhörer sind, oder erotematisch sein, wo der Lehrer | ||||||
08 | das, was er seine Jünger lehren will, ihnen abfrägt; und diese erotematische | ||||||
09 | Methode ist wiederum entweder die, da er es ihrer Vernunft, die | ||||||
10 | dialogische Lehrart, oder blos ihrem Gedächtnisse abfrägt, die katechetische | ||||||
11 | Lehrart. Denn wenn jemand der Vernunft des Anderen etwas | ||||||
12 | abfragen will, so kann es nicht anders als dialogisch, d. i. dadurch geschehen: | ||||||
13 | daß Lehrer und Schüler einander wechselseitig fragen und antworten. | ||||||
14 | Der Lehrer leitet durch Fragen den Gedankengang seines Lehrjüngers | ||||||
15 | dadurch, daß er die Anlage zu gewissen Begriffen in demselben | ||||||
16 | durch vorgelegte Fälle blos entwickelt (er ist die Hebamme seiner Gedanken); | ||||||
17 | der Lehrling, welcher hiebei inne wird, daß er selbst zu denken vermöge, | ||||||
18 | veranlaßt durch seine Gegenfragen (über Dunkelheit, oder den eingeräumten | ||||||
19 | Sätzen entgegenstehende Zweifel), daß der Lehrer nach dem | ||||||
20 | docendo discimus selbst lernt, wie er gut fragen müsse. [ denn es ist | ||||||
21 | eine an die Logik ergehende, noch nicht genugsam beherzigte Forderung: | ||||||
22 | daß sie auch Regeln an die Hand gebe, wie man zweckmäßig suchen solle, | ||||||
23 | d. i. nicht immer blos für bestimmende, sondern auch für vorläufige | ||||||
24 | Urtheile ( iudicia praevia ), durch die man auf Gedanken gebracht wird; eine | ||||||
25 | Lehre, die selbst dem Mathematiker zu Erfindungen ein Fingerzeig sein | ||||||
26 | kann und die von ihm auch oft angewandt wird. | ||||||
27 |
|
||||||
28 | Das erste und nothwendigste doctrinale Instrument der Tugendlehre | ||||||
29 | für den noch rohen Zögling ist ein moralischer Katechism. Dieser | ||||||
30 | muß vor dem Religionskatechism hergehen und kann nicht blos als Einschiebsel | ||||||
31 | in die Religionslehre mit verwebt, sondern muß abgesondert, als | ||||||
32 | ein für sich bestehendes Ganze, vorgetragen werden: denn nur durch rein | ||||||
33 | moralische Grundsätze kann der Überschritt von der Tugendlehre zur Religion | ||||||
34 | gethan werden, weil dieser ihre Bekenntnisse sonst unlauter sein würden. | ||||||
35 | Daher haben gerade die würdigsten und größten Theologen Anstand | ||||||
[ Seite 477 ] [ Seite 479 ] [ Inhaltsverzeichnis ] |