Kant: AA VI, Die Metaphysik der Sitten. ... , Seite 431

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 Natur gewurzelt zu sein scheint) aus das Übel der Unwahrhaftigkeit      
  02 sich auch in Beziehung auf andere Menschen verbreitet, nachdem einmal      
  03 der oberste Grundsatz der Wahrhaftigkeit verletzt worden.      
           
  04
Anmerkung.
     
           
  05 Es ist merkwürdig, daß die Bibel das erste Verbrechen, wodurch      
  06 das Böse in die Welt gekommen ist, nicht vom Brudermorde      
  07 (Kains), sondern von der ersten Lüge datirt (weil gegen jenen sich      
  08 doch die Natur empört) und als den Urheber alles Bösen den Lügner      
  09 von Anfang und den Vater der Lügen nennt; wiewohl die Vernunft      
  10 von diesem Hange der Menschen zur Gleisnerei ( esprit fourbe ),      
  11 der doch vorher gegangen sein muß, keinen Grund weiter angeben      
  12 kann: weil ein Act der Freiheit nicht (gleich einer physischen Wirkung)      
  13 nach dem Naturgesetz des Zusammenhanges der Wirkung und ihrer      
  14 Ursache, welche insgesammt Erscheinungen sind, deducirt und erklärt      
  15 werden kann.      
           
  16
Casuistische Fragen.
     
           
  17 Kann eine Unwahrheit aus bloßer Höflichkeit (z. B. das ganz gehorsamster      
  18 Diener am Ende eines Briefes) für Lüge gehalten werden?      
  19 Niemand wird ja dadurch betrogen. - Ein Autor frägt einen seiner Leser:      
  20 wie gefällt Ihnen mein Werk? Die Antwort könnte nun zwar illusorisch      
  21 gegeben werden, da man über die Verfänglichkeit einer solchen Frage spöttelte;      
  22 aber wer hat den Witz immer bei der Hand? Das geringste Zögern      
  23 mit der Antwort ist schon Kränkung des Verfassers; darf er diesem also      
  24 zum Munde reden?      
           
  25 In wirklichen Geschäften, wo es aufs Mein und Dein ankommt,      
  26 wenn ich da eine Unwahrheit sage, muß ich alle die Folgen verantworten,      
  27 die daraus entspringen möchten? Z. B. ein Hausherr hat befohlen: daß,      
  28 wenn ein gewisser Mensch nach ihm fragen würde, er ihn verläugnen solle.      
  29 Der Dienstbote thut dieses: veranlaßt aber dadurch, daß jener entwischt      
  30 und ein großes Verbrechen ausübt, welches sonst durch die gegen ihn ausgeschickte      
  31 Wache wäre verhindert worden. Auf wen fällt hier die Schuld      
  32 (nach ethischen Grundsätzen)? Allerdings auch auf den letzteren, welcher      
  33 hier eine Pflicht gegen sich selbst durch eine Lüge verletzte; deren Folgen      
  34 ihm nun durch sein eigen Gewissen zugerechnet werden.      
           
           
     

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