Kant: AA VI, Die Metaphysik der Sitten. ... , Seite 408 |
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01 | Tugendbegriff, man solle sich fassen; doch ist diese Schwäche im Gebrauch | ||||||
02 | seines Verstandes, verbunden mit der Stärke der Gemüthsbewegung, nur | ||||||
03 | eine Untugend und gleichsam etwas Kindisches und Schwaches, was | ||||||
04 | mit dem besten Willen gar wohl zusammen bestehen kann und das einzige | ||||||
05 | Gute noch an sich hat, daß dieser Sturm bald aufhört. Ein Hang zum | ||||||
06 | Affect (z. B. Zorn) verschwistert sich daher nicht so sehr mit dem Laster, | ||||||
07 | als die Leidenschaft. Leidenschaft dagegen ist die zur bleibenden Neigung | ||||||
08 | gewordene sinnliche Begierde (z. B. der Haß im Gegensatz des | ||||||
09 | Zorns). Die Ruhe, mit der ihr nachgehangen wird, läßt Überlegung zu | ||||||
10 | und verstattet dem Gemüth sich darüber Grundsätze zu machen und so, | ||||||
11 | wenn die Neigung auf das Gesetzwidrige fällt, über sie zu brüten, sie tief | ||||||
12 | zu wurzeln und das Böse dadurch (als vorsätzlich) in seine Maxime aufzunehmen; | ||||||
13 | welches alsdann ein qualificirtes Böse, d. i. ein wahres | ||||||
14 | Laster, ist. | ||||||
15 | Die Tugend also, so fern sie auf innerer Freiheit gegründet ist, enthält | ||||||
16 | für die Menschen auch ein bejahendes Gebot, nämlich alle seine Vermögen | ||||||
17 | und Neigungen unter seine (der Vernunft) Gewalt zu bringen, | ||||||
18 | mithin der Herrschaft über sich selbst, welche über das Verbot, nämlich | ||||||
19 | von seinen Gefühlen und Neigungen sich nicht beherrschen zu lassen, (der | ||||||
20 | Pflicht der Apathie) hinzu kommt: weil, ohne daß die Vernunft die Zügel | ||||||
21 | der Regierung in ihre Hände nimmt, jene über den Menschen den | ||||||
22 | Meister spielen. | ||||||
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26 | Dieses Wort ist, gleich als ob es Fühllosigkeit, mithin subjective | ||||||
27 | Gleichgültigkeit in Ansehung der Gegenstände der Willkür bedeutete, in | ||||||
28 | übelen Ruf gekommen; man nahm es für Schwäche. Dieser Mißdeutung | ||||||
29 | kann dadurch vorgebeugt werden, daß man diejenige Affectlosigkeit, welche | ||||||
30 | von der Indifferenz zu unterscheiden ist, die moralische Apathie nennt: | ||||||
31 | da die Gefühle aus sinnlichen Eindrücken ihren Einfluß auf das moralische | ||||||
32 | nur dadurch verlieren, daß die Achtung fürs Gesetz über sie insgesammt | ||||||
33 | mächtiger wird. - Es ist nur die scheinbare Stärke eines Fieberkranken, | ||||||
34 | die den lebhaften Antheil selbst am Guten bis zum Affect steigen, | ||||||
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