Kant: AA VI, Die Metaphysik der Sitten. ... , Seite 372

     
           
 

Zeile:

 

Text (Kant):

 

 

 

 
  01 gegeben; aber freilich nur in der Erscheinung; d. i. eine rechtliche      
  02 Verfassung im allgemeinen Sinne des Worts ist da; und obgleich sie mit      
  03 großen Mängeln und groben Fehlern behaftet sein und nach und nach      
  04 wichtiger Verbesserungen bedürfen mag, so ist es doch schlechterdings unerlaubt      
  05 und sträflich, ihr zu widerstehen: weil, wenn das Volk dieser, obgleich      
  06 noch fehlerhaften Verfassung und der obersten Autorität Gewalt      
  07 entgegen setzen zu dürfen sich berechtigt hielte, es sich dünken würde, ein      
  08 Recht zu haben: Gewalt an die Stelle der alle Rechte zu oberst vorschreibenden      
  09 Gesetzgebung zu setzen; welches einen sich selbst zerstörenden obersten      
  10 Willen abgeben würde.      
           
  11 Die Idee einer Staatsverfassung überhaupt, welche zugleich absolutes      
  12 Gebot der nach Rechtsbegriffen urtheilenden praktischen Vernunft      
  13 für ein jedes Volk ist, ist heilig und unwiderstehlich; und wenn gleich      
  14 die Organisation des Staats durch sich selbst fehlerhaft wäre, so kann doch      
  15 keine subalterne Gewalt in demselben dem gesetzgebenden Oberhaupte desselben      
  16 thätlichen Widerstand entgegensetzen, sondern die ihm anhängenden      
  17 Gebrechen müssen durch Reformen, die er an sich selbst verrichtet, allmählig      
  18 gehoben werden: weil sonst bei einer entgegengesetzten Maxime      
  19 des Unterthans (nach eigenmächtiger Willkür zu verfahren) eine gute Verfassung      
  20 selbst nur durch blinden Zufall zu Stande kommen kann. - Das      
  21 Gebot: "Gehorchet der Obrigkeit, die Gewalt über euch hat," grübelt nicht      
  22 nach, wie sie zu dieser Gewalt gekommen sei (um sie allenfalls zu untergraben);      
  23 denn die, welche schon da ist, unter welcher ihr lebt, ist schon im      
  24 Besitz der Gesetzgebung, über die ihr zwar öffentlich vernünfteln, euch aber      
  25 selbst nicht zu widerstrebenden Gesetzgebern aufwerfen könnt.      
           
  26 Unbedingte Unterwerfung des Volkswillens (der an sich unvereinigt,      
  27 mithin gesetzlos ist) unter einem souveränen (alle durch Ein Gesetz vereinigenden)      
  28 Willen ist That, die nur durch Bemächtigung der obersten      
  29 Gewalt anheben kann und so zuerst ein öffentliches Recht begründet.      
  30 Gegen diese Machtvollkommenheit noch einen Widerstand zu erlauben (der      
  31 jene oberste Gewalt einschränkte), heißt sich selbst widersprechen; denn alsdann      
  32 wäre jene (welcher widerstanden werden darf) nicht die gesetzliche      
  33 oberste Gewalt, die zuerst bestimmt, was öffentlich recht sein soll oder nicht      
  34 - und dieses Princip liegt schon a priori in der Idee einer Staatsverfassung      
  35 überhaupt, d. i. in einem Begriffe der praktischen Vernunft, dem      
  36 zwar adäquat kein Beispiel in der Erfahrung untergelegt werden kann,      
  37 dem aber auch als Norm keine widersprechen muß.      
           
           
     

[ Seite 371 ] [ Seite 373 ] [ Inhaltsverzeichnis ]