Kant: AA VI, Die Metaphysik der Sitten. ... , Seite 350 |
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| 01 | pleonastisch; denn der Naturzustand ist selbst ein Zustand der | ||||||
| 02 | Ungerechtigkeit. Ein gerechter Feind würde der sein, welchem meinerseits | ||||||
| 03 | zu widerstehen ich unrecht thun würde; dieser würde aber alsdann auch | ||||||
| 04 | nicht mein Feind sein. | ||||||
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| 06 | Da der Naturzustand der Völker eben so wohl als einzelner Menschen | ||||||
| 07 | ein Zustand ist, aus dem man herausgehen soll, um in einen gesetzlichen | ||||||
| 08 | zu treten: so ist vor diesem Ereigniß alles Recht der Völker und alles | ||||||
| 09 | durch den Krieg erwerbliche oder erhaltbare äußere Mein und Dein der | ||||||
| 10 | Staaten bloß provisorisch und kann nur in einem allgemeinen Staatenverein | ||||||
| 11 | (analogisch mit dem, wodurch ein Volk Staat wird) peremtorisch | ||||||
| 12 | geltend und ein wahrer Friedenszustand werden. Weil aber bei gar | ||||||
| 13 | zu großer Ausdehnung eines solchen Völkerstaats über weite Landstriche | ||||||
| 14 | die Regierung desselben, mithin auch die Beschützung eines jeden Gliedes | ||||||
| 15 | endlich unmöglich werden muß, eine Menge solcher Corporationen aber | ||||||
| 16 | wiederum ein Kriegszustand herbeiführt: so ist der ewige Friede (das | ||||||
| 17 | letzte Ziel des ganzen Völkerrechts) freilich eine unausführbare Idee. Die | ||||||
| 18 | politische Grundsätze aber, die darauf abzwecken, nämlich solche Verbindungen | ||||||
| 19 | der Staaten einzugehen, als zur continuirlichen Annäherung zu | ||||||
| 20 | demselben dienen, sind es nicht, sondern, so wie diese eine auf der Pflicht, | ||||||
| 21 | mithin auch auf dem Recht der Menschen und Staaten gegründete Aufgabe | ||||||
| 22 | ist, allerdings ausführbar. | ||||||
| 23 | Man kann einen solchen Verein einiger Staaten, um den Frieden | ||||||
| 24 | zu erhalten, den permanenten Staatencongreß nennen, zu welchem | ||||||
| 25 | sich zu gesellen jedem benachbarten unbenommen bleibt; dergleichen (wenigstens | ||||||
| 26 | was die Förmlichkeiten des Völkerrechts in Absicht auf Erhaltung | ||||||
| 27 | des Friedens betrifft) in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts in der | ||||||
| 28 | Versammlung der Generalstaaten im Haag noch statt fand; wo die Minister | ||||||
| 29 | der meisten europäischen Höfe und selbst der kleinsten Republiken | ||||||
| 30 | ihre Beschwerden über die Befehdungen, die einem von dem anderen widerfahren | ||||||
| 31 | waren, anbrachten und so sich ganz Europa als einen einzigen föderirten | ||||||
| 32 | Staat dachten, den sie in jener ihren öffentlichen Streitigkeiten | ||||||
| 33 | gleichsam als Schiedsrichter annahmen, statt dessen späterhin das Völkerrecht | ||||||
| 34 | bloß in Büchern übrig geblieben, aus Cabinetten aber verschwunden, | ||||||
| 35 | oder nach schon verübter Gewalt in Form der Deductionen der Dunkelheit | ||||||
| 36 | der Archive anvertrauet worden ist. | ||||||
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