Kant: AA VI, Die Metaphysik der Sitten. ... , Seite 335

     
           
 

Zeile:

 

Text (Kant):

 

 

 

 
  01 einer affectirten Humanität ( compassibilitas ) seine Behauptung      
  02 der Unrechtmäßigkeit aller Todesstrafe aufgestellt: weil sie im ursprünglichen      
  03 bürgerlichen Vertrage nicht enthalten sein könnte; denn da      
  04 hätte jeder im Volk einwilligen müssen, sein Leben zu verlieren, wenn er      
  05 etwa einen Anderen (im Volk) ermordete; diese Einwilligung aber sei unmöglich,      
  06 weil Niemand über sein Leben disponiren könne. Alles Sophisterei      
  07 und Rechtsverdrehung.      
           
  08 Strafe erleidet jemand nicht, weil er sie, sondern weil er eine strafbare      
  09 Handlung gewollt hat; denn es ist keine Strafe, wenn einem geschieht,      
  10 was er will, und es ist unmöglich, gestraft werden zu wollen.      
  11 Sagen: ich will gestraft werden, wenn ich jemand ermorde, heißt nichts      
  12 mehr als: ich unterwerfe mich sammt allen Übrigen den Gesetzen, welche      
  13 natürlicherweise, wenn es Verbrecher im Volk giebt, auch Strafgesetze sein      
  14 werden. Ich als Mitgesetzgeber, der das Strafgesetz dictirt, kann unmöglich      
  15 dieselbe Person sein, die als Unterthan nach dem Gesetz bestraft      
  16 wird; denn als ein solcher, nämlich als Verbrecher, kann ich unmöglich eine      
  17 Stimme in der Gesetzgebung haben (der Gesetzgeber ist heilig). Wenn ich      
  18 also ein Strafgesetz gegen mich als einen Verbrecher abfasse, so ist es in      
  19 mir die reine rechtlich=gesetzgebende Vernunft ( homo noumenon ), die mich      
  20 als einen des Verbrechens Fähigen, folglich als eine andere Person ( homo      
  21 phaenomenon ) sammt allen übrigen in einem Bürgerverein dem Strafgesetze      
  22 unterwirft. Mit andern Worten: nicht das Volk (jeder einzelne in      
  23 demselben), sondern das Gericht (die öffentliche Gerechtigkeit), mithin ein      
  24 anderer als der Verbrecher dictirt die Todesstrafe, und im Socialcontract      
  25 ist gar nicht das Versprechen enthalten, sich strafen zu lassen und so über      
  26 sich selbst und sein Leben zu disponiren. Denn wenn der Befugniß zu      
  27 strafen ein Versprechen des Missethäters zum Grunde liegen müßte,      
  28 sich strafen lassen zu wollen, so müßte es diesem auch überlassen werden,      
  29 sich straffällig zu finden, und der Verbrecher würde sein eigener Richter      
  30 sein. - Der Hauptpunkt des Irrthums (πρωτον ψεyδοσ) dieses Sophisms      
  31 besteht darin: daß man das eigene Urtheil des Verbrechers (das man      
  32 seiner Vernunft nothwendig zutrauen muß), des Lebens verlustig werden      
  33 zu müssen, für einen Beschluß des Willens ansieht, es sich selbst zu      
  34 nehmen, und so sich die Rechtsvollziehung mit der Rechtsbeurtheilung in      
  35 einer und derselben Person vereinigt vorstellt.      
           
  36 Es giebt indessen zwei todeswürdige Verbrechen, in Ansehung deren,      
  37 ob die Gesetzgebung auch die Befugniß habe, sie mit der Todesstrafe      
           
     

[ Seite 334 ] [ Seite 336 ] [ Inhaltsverzeichnis ]