Kant: AA VI, Die Metaphysik der Sitten. ... , Seite 317 |
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01 | patriotischen, unter welcher aber nicht eine väterliche ( regimen paternale ), | ||||||
02 | als die am meisten despotische unter allen (Bürger als Kinder zu | ||||||
03 | behandeln), sondern vaterländische ( regimen civitatis et patriae ) verstanden | ||||||
04 | wird, wo der Staat selbst ( civitas ) seine Unterthanen zwar gleichsam | ||||||
05 | als Glieder einer Familie, doch zugleich als Staatsbürger, d. i. nach | ||||||
06 | Gesetzen ihrer eigenen Selbstständigkeit, behandelt, jeder sich selbst besitzt | ||||||
07 | und nicht vom absoluten Willen eines Anderen neben oder über ihm | ||||||
08 | abhängt. | ||||||
09 | Der Beherrscher des Volks (der Gesetzgeber) kann also nicht zugleich | ||||||
10 | der Regent sein, denn dieser steht unter dem Gesetz und wird durch dasselbe | ||||||
11 | folglich von einem Anderen, dem Souverän, verpflichtet. Jener | ||||||
12 | kann diesem auch seine Gewalt nehmen, ihn absetzen, oder seine Verwaltung | ||||||
13 | reformiren, aber ihn nicht strafen (und das bedeutet allein der in | ||||||
14 | England gebräuchliche Ausdruck: der König, d. i. die oberste ausübende | ||||||
15 | Gewalt, kann nicht unrecht thun); denn das wäre wiederum ein Act der | ||||||
16 | ausübenden Gewalt, der zu oberst das Vermögen dem Gesetze gemäß zu | ||||||
17 | zwingen zusteht, die aber doch selbst einem Zwange unterworfen wäre; | ||||||
18 | welches sich widerspricht. | ||||||
19 | Endlich kann weder der Staatsherrscher noch der Regierer richten, | ||||||
20 | sondern nur Richter als Magisträte einsetzen. Das Volk richtet sich selbst | ||||||
21 | durch diejenigen ihrer Mitbürger, welche durch freie Wahl, als Repräsentanten | ||||||
22 | desselben, und zwar für jeden Act besonders dazu ernannt werden. | ||||||
23 | Denn der Rechtsspruch (die Sentenz) ist ein einzelner Act der öffentlichen | ||||||
24 | Gerechtigkeit ( iustitiae distributivae ) durch einen Staatsverwalter (Richter | ||||||
25 | oder Gerichtshof) auf den Unterthan, d. i. einen, der zum Volk gehört, | ||||||
26 | mithin mit keiner Gewalt bekleidet ist, ihm das Seine zuzuerkennen (zu | ||||||
27 | ertheilen). Da nun ein jeder im Volk diesem Verhältnisse nach (zur | ||||||
28 | Obrigkeit) bloß passiv ist, so würde eine jede jener beiden Gewalten in | ||||||
29 | dem, was sie über den Unterthan im streitigen Falle des Seinen eines jeden | ||||||
30 | beschließen, ihm unrecht thun können: weil es nicht das Volk selbst thäte | ||||||
31 | und, ob schuldig oder nichtschuldig, über seine Mitbürger ausspräche; | ||||||
32 | auf welche Ausmittelung der That in der Klagsache nun der Gerichtshof | ||||||
33 | das Gesetz anzuwenden und vermittelst der ausführenden Gewalt einem | ||||||
34 | jeden das Seine zu Theil werden zu lassen die richterliche Gewalt hat. | ||||||
35 | Also kann nur das Volk durch seine von ihm selbst abgeordnete Stellvertreter | ||||||
36 | (die Jury) über jeden in demselben, obwohl nur mittelbar, richten. | ||||||
37 | - Es wäre auch unter der Würde des Staatsoberhaupts, den Richter zu | ||||||
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