Kant: AA VI, Die Metaphysik der Sitten. ... , Seite 307 |
|||||||
Zeile:
|
Text (Kant):
|
|
|
||||
01 | und dem Unterthan ( subditus ) ist keine Mitgenossenschaft; sie | ||||||
02 | sind nicht Gesellen, sondern einander untergeordnet, nicht beigeordnet, | ||||||
03 | und die sich einander beiordnen, müssen sich eben deshalb | ||||||
04 | untereinander als gleich ansehen, so fern sie unter gemeinsamen Gesetzen | ||||||
05 | stehen. Jener Verein ist also nicht sowohl als macht vielmehr eine | ||||||
06 | Gesellschaft. | ||||||
07 |
|
||||||
08 | Aus dem Privatrecht im natürlichen Zustande geht nun das Postulat | ||||||
09 | des öffentlichen Rechts hervor: du sollst im Verhältnisse eines unvermeidlichen | ||||||
10 | Nebeneinanderseins mit allen anderen aus jenem heraus in einen | ||||||
11 | rechtlichen Zustand, d. i. den einer austheilenden Gerechtigkeit übergehen. | ||||||
12 | - Der Grund davon läßt sich analytisch aus dem Begriffe des Rechts | ||||||
13 | im äußeren Verhältniß im Gegensatz der Gewalt ( violentia ) entwickeln. | ||||||
14 | Niemand ist verbunden, sich des Eingriffs in den Besitz des Anderen | ||||||
15 | zu enthalten, wenn dieser ihm nicht gleichmäßig auch Sicherheit | ||||||
16 | giebt, er werde eben dieselbe Enthaltsamkeit gegen ihn beobachten. Er | ||||||
17 | darf also nicht abwarten, bis er etwa durch eine traurige Erfahrung von | ||||||
18 | der entgegengesetzten Gesinnung des letzteren belehrt wird; denn was | ||||||
19 | sollte ihn verbinden, allererst durch Schaden klug zu werden, da er die | ||||||
20 | Neigung der Menschen überhaupt über andere den Meister zu spielen | ||||||
21 | (die Überlegenheit des Rechts anderer nicht zu achten, wenn sie sich der | ||||||
22 | Macht oder List nach diesen überlegen fühlen) in sich selbst hinreichend | ||||||
23 | wahrnehmen kann, und es ist nicht nöthig, die wirkliche Feindseligkeit abzuwarten; | ||||||
24 | er ist zu einem Zwange gegen den befugt, der ihm schon seiner | ||||||
25 | Natur nach damit droht. ( quilibet praesumitur malus, donec securitatem | ||||||
26 | dederit oppositi. ) | ||||||
27 | Bei dem Vorsatze, in diesem Zustande äußerlich gesetzloser Freiheit | ||||||
28 | zu sein und zu bleiben, thun sie einander auch gar nicht unrecht, wenn | ||||||
29 | sie sich untereinander befehden; denn was dem Einen gilt, das gilt auch | ||||||
30 | wechselseitig dem Anderen, gleich als durch eine Übereinkunft ( uti partes | ||||||
31 | de iure suo disponunt, ita ius est ): aber überhaupt thun sie im höchsten | ||||||
32 | Grade daran unrecht*) in einem Zustande sein und bleiben zu wollen, | ||||||
*) Dieser Unterschied zwischen dem, was bloß formaliter, und dem, was auch materialiter unrecht ist, hat in der Rechtslehre mannigfaltigen Gebrauch. Der Feind, der, statt seine Capitulation mit der Besatzung einer belagerten Festung ehrlich zu vollziehen, sie bei dieser ihrem Auszuge mißhandelt, oder sonst diesen Vertrag bricht, [Seitenumbruch] kann nicht über Unrecht klagen, wenn sein Gegner bei Gelegenheit ihm denselben Streich spielt. Aber sie thun überhaupt im höchsten Grade unrecht, weil sie dem Begriff des Rechts selber alle Gültigkeit nehmen und alles der wilden Gewalt gleichsam gesetzmäßig überliefern und so das Recht der Menschen überhaupt umstürzen. | |||||||
[ Seite 306 ] [ Seite 308 ] [ Inhaltsverzeichnis ] |