Kant: AA VI, Die Metaphysik der Sitten. ... , Seite 236 |
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Text (Kant):
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| 01 | nicht etwa als unsträflich ( inculpabile ), sondern nur als unstrafbar | ||||||
| 02 | ( impunibile ) zu beurtheilen, und diese subjective Straflosigkeit | ||||||
| 03 | wird durch eine wunderliche Verwechselung von den Rechtslehrern für | ||||||
| 04 | eine objective (Gesetzmäßigkeit) gehalten. | ||||||
| 05 | Der Sinnspruch des Nothrechts heißt: "Noth hat kein Gebot ( necessitas | ||||||
| 06 | non habet legem )"; und gleichwohl kann es keine Noth geben, welche, | ||||||
| 07 | was unrecht ist, gesetzmäßig machte. | ||||||
| 08 | Man sieht: daß in beiden Rechtsbeurtheilungen (nach dem Billigkeits | ||||||
| 09 | und dem Nothrechte) die Doppelsinnigkeit ( aequivocatio ) aus | ||||||
| 10 | der Verwechselung der objectiven mit den subjectiven Gründen der Rechtsausübung | ||||||
| 11 | (vor der Vernunft und vor einem Gericht) entspringt, da dann, | ||||||
| 12 | was jemand für sich selbst mit gutem Grunde für recht erkennt, vor einem | ||||||
| 13 | Gerichtshofe nicht Bestätigung finden und, was er selbst an sich als unrecht | ||||||
| 14 | beurtheilen muß, von eben demselben Nachsicht erlangen kann: weil | ||||||
| 15 | der Begriff des Rechts in diesen zwei Fällen nicht in einerlei Bedeutung | ||||||
| 16 | ist genommen worden. | ||||||
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| 20 | Man kann diese Eintheilung sehr wohl nach dem Ulpian machen, | ||||||
| 21 | wenn man seinen Formeln einen Sinn unterlegt, den er sich dabei zwar | ||||||
| 22 | nicht deutlich gedacht haben mag, den sie aber doch verstatten daraus zu | ||||||
| 23 | entwickeln, oder hinein zu legen. Sie sind folgende: | ||||||
| 24 | 1) Sei ein rechtlicher Mensch ( honeste vive ). Die rechtliche Ehrbarkeit | ||||||
| 25 | ( honestas iuridica ) besteht darin: im Verhältniß zu Anderen | ||||||
| 26 | seinen Werth als den eines Menschen zu behaupten, welche | ||||||
| 27 | Pflicht durch den Satz ausgedrückt wird: "Mache dich anderen nicht | ||||||
| 28 | zum bloßen Mittel, sondern sei für sie zugleich Zweck." Diese Pflicht | ||||||
| 29 | wird im folgenden als Verbindlichkeit aus dem Rechte der Menschheit | ||||||
| 30 | in unserer eigenen Person erklärt werden ( Lex iusti ). | ||||||
| 31 | 2) Thue niemanden Unrecht ( neminem laede ), und solltest du darüber | ||||||
| 32 | auch aus aller Verbindung mit andern heraus gehen und alle | ||||||
| 33 | Gesellschaft meiden müssen ( Lex iuridica ). | ||||||
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