Kant: AA VI, Die Metaphysik der Sitten. ... , Seite 215 |
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01 | möglich, ja nothwendig sei, ein System dieser Principien unter dem Namen | ||||||
02 | einer metaphysischen Naturwissenschaft vor der auf besondere Erfahrungen | ||||||
03 | angewandten, d. h. der Physik, voranzuschicken, ist an einem andern Orte | ||||||
04 | bewiesen worden. Allein die letztere kann (wenigstens wenn es ihr darum | ||||||
05 | zu thun ist, von ihren Sätzen den Irrthum abzuhalten) manches Princip | ||||||
06 | auf das Zeugniß der Erfahrung als allgemein annehmen, obgleich das | ||||||
07 | letztere, wenn es in strenger Bedeutung allgemein gelten soll, aus Gründen | ||||||
08 | a priori abgeleitet werden müßte, wie Newton das Princip der Gleichheit | ||||||
09 | der Wirkung und Gegenwirkung im Einflusse der Körper auf einander | ||||||
10 | als auf Erfahrung gegründet annahm und es gleichwohl über die ganze | ||||||
11 | materielle Natur ausdehnte. Die Chymiker gehen noch weiter und gründen | ||||||
12 | ihre allgemeinste Gesetze der Vereinigung und Trennung der Materien | ||||||
13 | durch ihre eigene Kräfte gänzlich auf Erfahrung und vertrauen gleichwohl | ||||||
14 | auf ihre Allgemeinheit und Nothwendigkeit so, daß sie in den mit ihnen | ||||||
15 | angestellten Versuchen keine Entdeckung eines Irrthums besorgen. | ||||||
16 | Allein mit den Sittengesetzen ist es anders bewandt. Nur sofern sie | ||||||
17 | als a priori gegründet und nothwendig eingesehen werden können, gelten | ||||||
18 | sie als Gesetze, ja die Begriffe und Urtheile über uns selbst und unser Thun | ||||||
19 | und Lassen bedeuten gar nichts Sittliches, wenn sie das, was sich blos | ||||||
20 | von der Erfahrung lernen läßt, enthalten, und wenn man sich etwa verleiten | ||||||
21 | läßt, etwas aus der letztern Quelle zum moralischen Grundsatze zu | ||||||
22 | machen, so geräth man in Gefahr der gröbsten und verderblichsten Irrthümer. | ||||||
24 | Wenn die Sittenlehre nichts als Glückseligkeitslehre wäre, so würde | ||||||
25 | es ungereimt sein, zum Behuf derselben sich nach Principien a priori umzusehen. | ||||||
26 | Denn so scheinbar es immer auch lauten mag: daß die Vernunft | ||||||
27 | noch vor der Erfahrung einsehen könne, durch welche Mittel man zum | ||||||
28 | dauerhaften Genuß wahrer Freuden des Lebens gelangen könne, so ist | ||||||
29 | doch alles, was man darüber a priori lehrt, entweder tautologisch, oder | ||||||
30 | ganz grundlos angenommen. Nur die Erfahrung kann lehren, was uns | ||||||
31 | Freude bringe. Die natürlichen Triebe zur Nahrung, zum Geschlecht, zur | ||||||
32 | Ruhe, zur Bewegung und (bei der Entwickelung unserer Naturanlagen) | ||||||
33 | die Triebe zur Ehre, zur Erweiterung unserer Erkenntniß u. d. gl., können | ||||||
34 | allein und einem jeden nur auf seine besondere Art zu erkennen geben, | ||||||
35 | worin er jene Freuden zu setzen, ebendieselbe kann ihm auch die Mittel | ||||||
36 | lehren, wodurch er sie zu suchen habe. Alles scheinbare Vernünfteln | ||||||
37 | a priori ist hier im Grunde nichts, als durch Induction zur Allgemeinheit | ||||||
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