Kant: AA VI, Die Metaphysik der Sitten. ... , Seite 206 |
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01 | Anmerkungen zu bringen: weil sonst das, was hier Metaphysik ist, | ||||||
02 | von dem, was empirische Rechtspraxis ist, nicht wohl unterschieden werden | ||||||
03 | könnte. | ||||||
04 | Ich kann dem so oft gemachten Vorwurf der Dunkelheit, ja wohl gar | ||||||
05 | einer geflissenen, den Schein tiefer Einsicht affectirenden Undeutlichkeit im | ||||||
06 | philosophischen Vortrage nicht besser zuvorkommen oder abhelfen, als daß | ||||||
07 | ich, was Herr Garve, ein Philosoph in der ächten Bedeutung des Worts, | ||||||
08 | jedem, vornehmlich dem philosophirenden Schriftsteller zur Pflicht macht, | ||||||
09 | bereitwillig annehme und meinerseits diesen Anspruch bloß auf die Bedingung | ||||||
10 | einschränke, ihm nur so weit Folge zu leisten, als es die Natur | ||||||
11 | der Wissenschaft erlaubt, die zu berichtigen und zu erweitern ist. | ||||||
12 | Der weise Mann fordert (in seinem Werk, vermischte Aufsätze | ||||||
13 | betitelt, S. 352 u. f.) mit Recht, eine jede philosophische Lehre müsse, wenn | ||||||
14 | der Lehrer nicht selbst in den Verdacht der Dunkelheit seiner Begriffe | ||||||
15 | kommen soll - zur Popularität (einer zur allgemeinen Mittheilung | ||||||
16 | hinreichenden Versinnlichung) gebracht werden können. Ich räume das | ||||||
17 | gern ein, nur mit Ausnahme des Systems einer Kritik des Vernunftvermögens | ||||||
18 | selbst und alles dessen, was nur durch dieser ihre Bestimmung beurkundet | ||||||
19 | werden kann: weil es zur Unterscheidung des Sinnlichen in unserem | ||||||
20 | Erkenntniß vom Übersinnlichen, dennoch aber der Vernunft Zustehenden | ||||||
21 | gehört. Dieses kann nie populär werden, so wie überhaupt keine | ||||||
22 | formelle Metaphysik; obgleich ihre Resultate für die gesunde Vernunft | ||||||
23 | (eines Metaphysikers, ohne es zu wissen) ganz einleuchtend gemacht werden | ||||||
24 | können. Hier ist an keine Popularität (Volkssprache) zu denken, sondern | ||||||
25 | es muß auf scholastische Pünktlichkeit, wenn sie auch Peinlichkeit gescholten | ||||||
26 | würde, gedrungen werden (denn es ist Schulsprache): weil dadurch | ||||||
27 | allein die voreilige Vernunft dahin gebracht werden kann, vor ihren | ||||||
28 | dogmatischen Behauptungen sich erst selbst zu verstehen. | ||||||
29 | Wenn aber Pedanten sich anmaßen, zum Publicum (auf Kanzeln | ||||||
30 | und in Volksschriften) mit Kunstwörtern zu reden, die ganz für die Schule | ||||||
31 | geeignet sind, so kann das so wenig dem kritischen Philosophen zur Last | ||||||
32 | fallen, als dem Grammatiker der Unverstand des Wortklaubers ( logodaedalus ). | ||||||
33 | Das Belachen kann hier nur den Mann, aber nicht die | ||||||
34 | Wissenschaft treffen. | ||||||
35 | Es klingt arrogant, selbstsüchtig und für die, welche ihrem alten | ||||||
36 | System noch nicht entsagt haben, verkleinerlich, zu behaupten: daß vor | ||||||
37 | dem Entstehen der kritischen Philosophie es noch gar keine gegeben habe. | ||||||
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