Kant: AA VI, Die Religion innerhalb der ... , Seite 165 |
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| 01 | sich schleppen. - Soll dieses nun nicht geschehen, so muß die allgemeine | ||||||
| 02 | Menschenvernunft in einer natürlichen Religion in der christlichen Glaubenslehre | ||||||
| 03 | für das oberste gebietende Princip anerkannt und geehrt, die | ||||||
| 04 | Offenbarungslehre aber, worauf eine Kirche gegründet wird, und die der | ||||||
| 05 | Gelehrten als Ausleger und Aufbewahrer bedarf, als bloßes, aber höchst | ||||||
| 06 | schätzbares Mittel, um der ersteren Faßlichkeit, selbst für die Unwissenden, | ||||||
| 07 | Ausbreitung und Beharrlichkeit zu geben, geliebt und cultivirt werden. | ||||||
| 08 | Das ist der wahre Dienst der Kirche unter der Herrschaft des guten | ||||||
| 09 | Princips; der aber, wo der Offenbarungsglaube vor der Religion vorhergehen | ||||||
| 10 | soll, der Afterdienst, wodurch die moralische Ordnung ganz umgekehrt | ||||||
| 11 | und das, was nur Mittel ist, unbedingt (gleich als Zweck) geboten | ||||||
| 12 | wird. Der Glaube an Sätze, von welchen der Ungelehrte sich weder durch | ||||||
| 13 | Vernunft noch Schrift (sofern diese allererst beurkundet werden müßte) | ||||||
| 14 | vergewissern kann, würde zur absoluten Pflicht gemacht ( fides imperata ) | ||||||
| 15 | und so sammt andern damit verbundenen Observanzen zum Rang eines | ||||||
| 16 | auch ohne moralische Bestimmungsgründe der Handlungen als Frohndienst | ||||||
| 17 | seligmachenden Glaubens erhoben werden. - Eine Kirche, auf das | ||||||
| 18 | letztere Principium gegründet, hat nicht eigentlich Diener ( ministri ), so | ||||||
| 19 | wie die von der erstern Verfassung, sondern gebietende hohe Beamte | ||||||
| 20 | ( officiales ), welche, wenn sie gleich (wie in einer protestantischen Kirche) | ||||||
| 21 | nicht im Glanz der Hierarchie als mit äußerer Gewalt bekleidete geistliche | ||||||
| 22 | Beamte erscheinen und sogar mit Worten dagegen protestiren, in der | ||||||
| 23 | That doch sich für die einigen berufenen Ausleger einer heiligen Schrift | ||||||
| 24 | gehalten wissen wollen, nachdem sie die reine Vernunftreligion der ihr | ||||||
| 25 | gebührenden Würde, allemal die höchste Auslegerin derselben zu sein, beraubt | ||||||
| 26 | und die Schriftgelehrsamkeit allein zum Behuf des Kirchenglaubens | ||||||
| 27 | zu gebrauchen geboten haben. Sie verwandeln auf diese Art den Dienst | ||||||
| 28 | der Kirche ( ministerium ) in eine Beherrschung der Glieder derselben | ||||||
| 29 | ( imperium ), obzwar sie, um diese Anmaßung zu verstecken, sich des bescheidenen | ||||||
| 30 | Titels des erstern bedienen. Aber diese Beherrschung, die der | ||||||
| 31 | Vernunft leicht gewesen wäre, kommt ihr theuer, nämlich mit dem Aufwande | ||||||
| 32 | großer Gelehrsamkeit, zu stehen. Denn, "blind in Ansehung der | ||||||
| 33 | Natur, reißt sie sich das ganze Alterthum über den Kopf und begräbt sich | ||||||
| 34 | darunter". - Der Gang, den die Sachen, auf diesen Fuß gebracht, | ||||||
| 35 | nehmen, ist folgender: | ||||||
| 36 | Zuerst wird das von den ersten Ausbreitern der Lehre Christi klüglich | ||||||
| 37 | beobachtete Verfahren, ihr unter ihrem Volk Eingang zu verschaffen, für | ||||||
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