Kant: AA VI, Die Religion innerhalb der ... , Seite 119 |
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| 01 | welcher mit einem sonst vielleicht auch wohl exemplarischen Lebenswandel | ||||||
| 02 | Gleichgültigkeit, oder wohl gar Widersetzlichkeit gegen alle Offenbarung | ||||||
| 03 | verbindet. - Das wäre aber den Knoten (durch eine praktische | ||||||
| 04 | Maxime) zerhauen, anstatt ihn (theoretisch) aufzulösen, welches auch allerdings | ||||||
| 05 | in Religionsfragen erlaubt ist. - Zur Befriedigung des letzteren | ||||||
| 06 | Ansinnens kann indessen folgendes dienen. - Der lebendige Glaube an | ||||||
| 07 | das Urbild der Gott wohlgefälligen Menschheit (den Sohn Gottes) an | ||||||
| 08 | sich selbst ist auf eine moralische Vernunftidee bezogen, sofern diese uns | ||||||
| 09 | nicht allein zur Richtschnur, sondern auch zur Triebfeder dient, und also | ||||||
| 10 | einerlei, ob ich von ihm, als rationalem Glauben, oder vom Princip | ||||||
| 11 | des guten Lebenswandels anfange. Dagegen ist der Glaube an eben | ||||||
| 12 | dasselbe Urbild in der Erscheinung (an den Gottmenschen), als empirischer | ||||||
| 13 | (historischer) Glaube, nicht einerlei mit dem Princip des guten | ||||||
| 14 | Lebenswandels (welches ganz rational sein muß), und es wäre ganz etwas | ||||||
| 15 | anders, von einem solchen †) anfangen und daraus den guten Lebenswandel | ||||||
| 16 | ableiten zu wollen. Sofern wäre also ein Widerstreit zwischen den | ||||||
| 17 | obigen zwei Sätzen. Allein in der Erscheinung des Gottmenschen ist nicht | ||||||
| 18 | das, was von ihm in die Sinne fällt, oder durch Erfahrung erkannt werden | ||||||
| 19 | kann, sondern das in unsrer Vernunft liegende Urbild, welches wir | ||||||
| 20 | dem letztern unterlegen (weil, so viel sich an seinem Beispiel wahrnehmen | ||||||
| 21 | läßt, er jenem gemäß befunden wird), eigentlich das Object des seligmachenden | ||||||
| 22 | Glaubens, und ein solcher Glaube ist einerlei mit dem Princip | ||||||
| 23 | eines Gott wohlgefälligen Lebenswandels. - Also sind hier nicht zwei an | ||||||
| 24 | sich verschiedene Principien, von deren einem oder dem andern anzufangen, | ||||||
| 25 | entgegengesetzte Wege einzuschlagen wären, sondern nur eine und dieselbe | ||||||
| 26 | praktische Idee, von der wir ausgehen, einmal, so fern sie als Urbild | ||||||
| 27 | als in Gott befindlich und von ihm ausgehend, ein andermal, sofern sie | ||||||
| 28 | es als in uns befindlich, beidemal aber sofern sie es als Richtmaß unsers | ||||||
| 29 | Lebenswandels vorstellt; und die Antinomie ist also nur scheinbar: weil | ||||||
| 30 | sie eben dieselbe praktische Idee, nur in verschiedener Beziehung genommen, | ||||||
| 31 | durch einen Mißverstand für zwei verschiedene Principien ansieht. | ||||||
| 32 | Wollte man aber den Geschichtsglauben an die Wirklichkeit einer solchen | ||||||
| 33 | einmal in der Welt vorgekommenen Erscheinung zur Bedingung des allein | ||||||
| 34 | seligmachenden Glaubens machen, so wären es allerdings zwei ganz verschiedene | ||||||
| *!) Der die Existenz einer solchen Person auf historische Beweisthümer gründen muß. | |||||||
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