Kant: AA VI, Die Religion innerhalb der ... , Seite 097

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 Zustand der unaufhörlichen Befehdung des guten Princips, das in jedem      
  02 Menschen liegt, durch das Böse, welches in ihm und zugleich in jedem      
  03 andern angetroffen wird, die sich (wie oben bemerkt worden) einander      
  04 wechselseitig ihre moralische Anlage verderben und selbst bei dem guten      
  05 Willen jedes einzelnen durch den Mangel eines sie vereinigenden Princips      
  06 sich, gleich als ob sie Werkzeuge des Bösen wären, durch ihre Mißhelligkeiten      
  07 von dem gemeinschaftlichen Zweck des Guten entfernen und      
  08 einander in Gefahr bringen, seiner Herrschaft wiederum in die Hände zu      
  09 fallen. So wie nun ferner der Zustand einer gesetzlosen äußeren (brutalen)      
  10 Freiheit und Unabhängigkeit von Zwangsgesetzen ein Zustand der Ungerechtigkeit      
  11 und des Krieges von jedermann gegen jedermann ist, aus      
  12 welchem der Mensch herausgehen soll, um in einen politisch=bürgerlichen      
  13 zu treten*): so ist der ethische Naturzustand eine öffentliche wechselseitige      
  14 Befehdung der Tugendprincipien und ein Zustand der innern Sittenlosigkeit,      
  15 aus welchem der natürliche Mensch so bald wie möglich herauszukommen      
  16 sich befleißigen soll.      
           
  17 Hier haben wir nun eine Pflicht von ihrer eignen Art nicht der      
  18 Menschen gegen Menschen, sondern des menschlichen Geschlechts gegen sich      
  19 selbst. Jede Gattung vernünftiger Wesen ist nämlich objectiv, in der Idee      
  20 der Vernunft, zu einem gemeinschaftlichen Zwecke, nämlich der Beförderung      
  21 des höchsten als eines gemeinschaftlichen Guts, bestimmt. Weil aber das      
  22 höchste sittliche Gut durch die Bestrebung der einzelnen Person zu ihrer      
  23 eigenen moralischen Vollkommenheit allein nicht bewirkt wird, sondern      
  24 eine Vereinigung derselben in ein Ganzes zu eben demselben Zwecke zu      
           
    *) Hobbes' Satz: status hominum naturalis est bellum omnium in omnes, hat weiter keinen Fehler, als daß es heißen sollte: est status belli etc.. Denn wenn man gleich nicht einräumt, daß zwischen Menschen, die nicht unter äußern und öffentlichen Gesetzen stehen, jederzeit wirkliche Feindseligkeiten herrschen: so ist doch der Zustand derselben ( status iuridicus ), d. i. das Verhältniß, in und durch welches sie der Rechte (des Erwerbs oder der Erhaltung derselben) fähig sind, ein solcher Zustand, in welchem ein jeder selbst Richter über das sein will, was ihm gegen andere Recht sei, aber auch für dieses keine Sicherheit von andern hat oder ihnen giebt, als jedes seine eigene Gewalt; welches ein Kriegszustand ist, in dem jedermann wider jedermann beständig gerüstet sein muß. Der zweite Satz desselben: exeundum esse e statu naturali , ist eine Folge aus dem erstern: denn dieser Zustand ist eine continuirliche Läsion der Rechte aller andern durch die Anmaßung in seiner eigenen Sache Richter zu sein und andern Menschen keine Sicherheit wegen des ihrigen zu lassen, als bloß seine eigene Willkür.      
           
     

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