Kant: AA VI, Die Religion innerhalb der ... , Seite 084 |
|||||||
Zeile:
|
Text (Kant):
|
|
|
||||
01 | für Pflicht gehalten werden †), und man kann sich dabei desjenigen | ||||||
02 | erinnern, was der weise Lehrer seinen Jüngern von jemanden sagte, der | ||||||
03 | seinen besondern Weg ging, wobei er am Ende doch auf eben dasselbe Ziel | ||||||
04 | hinaus kommen mußte: "Wehret ihm nicht; denn wer nicht wider uns ist, | ||||||
05 | der ist für uns". | ||||||
06 |
|
||||||
07 | Wenn eine moralische Religion (die nicht in Satzungen und Observanzen, | ||||||
08 | sondern in der Herzensgesinnung zu Beobachtung aller Menschenpflichten | ||||||
09 | als göttlicher Gebote zu setzen ist) gegründet werden soll, so müssen | ||||||
10 | alle Wunder, die die Geschichte mit ihrer Einführung verknüpft, den | ||||||
11 | Glauben an Wunder überhaupt endlich selbst entbehrlich machen; denn es | ||||||
12 | verräth einen sträflichen Grad moralischen Unglaubens, wenn man den | ||||||
13 | Vorschriften der Pflicht, wie sie ursprünglich ins Herz des Menschen durch | ||||||
14 | die Vernunft geschrieben sind, anders nicht hinreichende Autorität zugestehen | ||||||
15 | will, als wenn sie noch dazu durch Wunder beglaubigt werden: | ||||||
16 | "wenn ihr nicht Zeichen und Wunder sehet, so glaubt ihr nicht". Nun | ||||||
17 | ist es doch der gemeinen Denkungsart der Menschen ganz angemessen, daß, | ||||||
18 | wenn eine Religion des bloßen Cultus und der Observanzen ihr Ende erreicht, | ||||||
19 | und dafür eine im Geist und in der Wahrheit (der moralischen Gesinnung) | ||||||
20 | gegründete eingeführt werden soll, die Introduction der letzteren, | ||||||
21 | ob sie es zwar nicht bedarf, in der Geschichte noch mit Wundern begleitet | ||||||
22 | und gleichsam ausgeschmückt werde, um die Endschaft der ersteren, die ohne | ||||||
23 | Wunder gar keine Autorität gehabt haben würde, anzukündigen: ja auch | ||||||
24 | wohl so, daß, um die Anhänger der ersteren für die neue Revolution zu | ||||||
25 | gewinnen, sie als jetzt in Erfüllung gegangenes älteres Vorbild dessen, | ||||||
26 | was in der letztern der Endzweck der Vorsehung war, ausgelegt wird; und | ||||||
27 | unter solchen Umständen kann es nichts fruchten, jene Erzählungen oder | ||||||
28 | Ausdeutungen jetzt zu bestreiten, wenn die wahre Religion einmal da ist | ||||||
29 | und sich nun und fernerhin durch Vernunftgründe selbst erhalten kann, die | ||||||
30 | zu ihrer Zeit durch solche Hülfsmittel introducirt zu werden bedurfte; man | ||||||
31 | müßte denn annehmen wollen, daß das bloße Glauben und Nachsagen unbegreiflicher | ||||||
32 | Dinge (was ein jeder kann, ohne darum ein besserer Mensch | ||||||
33 | zu sein, oder jemals dadurch zu werden) eine Art und gar die einzige sei, | ||||||
34 | Gott wohl zu gefallen; als wider welches Vorgeben mit aller Macht gestritten | ||||||
†) wobei man einräumen kann, daß er nicht der einzige sei. | |||||||
[ Seite 083 ] [ Seite 085 ] [ Inhaltsverzeichnis ] |