Kant: AA VI, Die Religion innerhalb der ... , Seite 019

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01

Erstes Stück.

     
  02

Von der Einwohnung des bösen Princips

     
  03

neben dem guten:

     
  04

oder

     
  05

über das radicale Böse in der menschlichen Natur.

     
           
  06 Daß die Welt im Argen liege, ist eine Klage, die so alt ist, als die      
  07 Geschichte, selbst als die noch ältere Dichtkunst, ja gleich alt mit der ältesten      
  08 unter allen Dichtungen, der Priesterreligion. Alle lassen gleichwohl      
  09 die Welt vom Guten anfangen: vom goldenen Zeitalter, vom Leben im      
  10 Paradiese, oder von einem noch glücklichern in Gemeinschaft mit himmlischen      
  11 Wesen. Aber dieses Glück lassen sie bald wie einen Traum verschwinden      
  12 und nun den Verfall ins Böse (das Moralische, mit welchem      
  13 das Physische immer zu gleichen Paaren ging) zum Ärgern mit accelerirtem      
  14 Falle eilen*): so daß wir jetzt (dieses Jetzt aber ist so alt, als die      
  15 Geschichte) in der letzten Zeit leben, der jüngste Tag und der Welt Untergang      
  16 vor der Thür ist, und in einigen Gegenden von Hindostan der Weltrichter      
  17 und Zerstörer Ruttren (sonst auch Siba oder Siwen genannt)      
  18 schon als der jetzt machthabende Gott verehrt wird, nachdem der Welterhalter      
  19 Wischnu, seines Amts, das er vom Weltschöpfer Brahma übernahm,      
  20 müde, es schon seit Jahrhunderten niedergelegt hat.      
           
  21 Neuer, aber weit weniger ausgebreitet ist die entgegengesetzte heroische      
  22 Meinung, die wohl allein unter Philosophen und in unsern Zeiten      
  23 vornehmlich unter Pädagogen Platz gefunden hat: daß die Welt gerade      
           
    *) Aetas parentum peior avis tulit Nos nequiores, mox daturos Progeniem vitiosiorem. Horat.      
           
     

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