Kant: AA IV, Grundlegung zur Metaphysik der ... , Seite 433

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 ein Interesse als Reiz oder Zwang bei sich führen, weil es nicht als      
  02 Gesetz aus seinem Willen entsprang, sondern dieser gesetzmäßig von etwas      
  03 anderm genöthigt wurde, auf gewisse Weise zu handeln. Durch      
  04 diese ganz nothwendige Folgerung aber war alle Arbeit, einen obersten      
  05 Grund der Pflicht zu finden, unwiederbringlich verloren. Denn man bekam      
  06 niemals Pflicht, sondern Nothwendigkeit der Handlung aus einem      
  07 gewissen Interesse heraus. Dieses mochte nun ein eigenes oder fremdes      
  08 Interesse sein. Aber alsdann mußte der Imperativ jederzeit bedingt ausfallen      
  09 und konnte zum moralischen Gebote gar nicht taugen. Ich will also      
  10 diesen Grundsatz das Princip der Autonomie des Willens im Gegensatz      
  11 mit jedem andern, das ich deshalb zur Heteronomie zähle, nennen.      
           
  12 Der Begriff eines jeden vernünftigen Wesens, das sich durch alle      
  13 Maximen seines Willens als allgemein gesetzgebend betrachten muß, um      
  14 aus diesem Gesichtspunkte sich selbst und seine Handlungen zu beurtheilen,      
  15 führt auf einen ihm anhängenden sehr fruchtbaren Begriff, nämlich den      
  16 eines Reichs der Zwecke.      
           
  17 Ich verstehe aber unter einem Reiche die systematische Verbindung      
  18 verschiedener vernünftiger Wesen durch gemeinschaftliche Gesetze. Weil      
  19 nun Gesetze die Zwecke ihrer allgemeinen Gültigkeit nach bestimmen, so      
  20 wird, wenn man von dem persönlichen Unterschiede vernünftiger Wesen,      
  21 imgleichen allem Inhalte ihrer Privatzwecke abstrahirt, ein Ganzes aller      
  22 Zwecke (sowohl der vernünftigen Wesen als Zwecke an sich, als auch der      
  23 eigenen Zwecke, die ein jedes sich selbst setzen mag) in systematischer Verknüpfung      
  24 d. i. ein Reich der Zwecke, gedacht werden können, welches nach      
  25 obigen Principien möglich ist.      
           
  26 Denn vernünftige Wesen stehen alle unter dem Gesetz, daß jedes      
  27 derselben sich selbst und alle andere niemals bloß als Mittel, sondern      
  28 jederzeit zugleich als Zweck an sich selbst behandeln solle. Hiedurch      
  29 aber entspringt eine systematische Verbindung vernünftiger Wesen durch      
  30 gemeinschaftliche objective Gesetze, d. i. ein Reich, welches, weil diese Gesetze      
  31 eben die Beziehung dieser Wesen auf einander als Zwecke und Mittel      
  32 zur Absicht haben, ein Reich der Zwecke (freilich nur ein Ideal) heißen      
  33 kann.      
           
  34 Es gehört aber ein vernünftiges Wesen als Glied zum Reiche der      
  35 Zwecke, wenn es darin zwar allgemein gesetzgebend, aber auch diesen Gesetzen      
  36 selbst unterworfen ist. Es gehört dazu als oberhaupt, wenn es      
  37 als gesetzgebend keinem Willen eines andern unterworfen ist.      
           
     

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