Kant: AA IV, Grundlegung zur Metaphysik der ... , Seite 422

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 so weit im Besitze seiner Vernunft, daß er sich selbst fragen kann, ob es      
  02 auch nicht etwa der Pflicht gegen sich selbst zuwider sei, sich das Leben zu      
  03 nehmen. Nun versucht er: ob die Maxime seiner Handlung wohl ein allgemeines      
  04 Naturgesetz werden könne. Seine Maxime aber ist: ich mache      
  05 es mir aus Selbstliebe zum Princip, wenn das Leben bei seiner längern      
  06 Frist mehr Übel droht, als es Annehmlichkeit verspricht, es mir abzukürzen.      
  07 Es frägt sich nur noch, ob dieses Princip der Selbstliebe ein allgemeines      
  08 Naturgesetz werden könne. Da sieht man aber bald, daß eine      
  09 Natur, deren Gesetz es wäre, durch dieselbe Empfindung, deren Bestimmung      
  10 es ist, zur Beförderung des Lebens anzutreiben, das Leben selbst      
  11 zu zerstören, ihr selbst widersprechen und also nicht als Natur bestehen      
  12 würde, mithin jene Maxime unmöglich als allgemeines Naturgesetz stattfinden      
  13 könne und folglich dem obersten Princip aller Pflicht gänzlich widerstreite.      
           
  15 2) Ein anderer sieht sich durch Noth gedrungen, Geld zu borgen. Er      
  16 Weiß wohl, daß er nicht wird bezahlen können, sieht aber auch, daß ihm      
  17 nichts geliehen werden wird, wenn er nicht festiglich verspricht, es zu einer      
  18 bestimmten Zeit zu bezahlen. Er hat Lust, ein solches Versprechen zu      
  19 thun; noch aber hat er so viel Gewissen, sich zu fragen: ist es nicht unerlaubt      
  20 und pflichtwidrig, sich auf solche Art aus Noth zu helfen? Gesetzt,      
  21 er beschlösse es doch, so würde seine Maxime der Handlung so lauten:      
  22 wenn ich mich in Geldnoth zu sein glaube, so will ich Geld borgen und      
  23 versprechen es zu bezahlen, ob ich gleich weiß, es werde niemals geschehen.      
  24 Nun ist dieses Princip der Selbstliebe oder der eigenen Zuträglichkeit      
  25 mit meinem ganzen künftigen Wohlbefinden vielleicht wohl zu vereinigen,      
  26 allein jetzt ist die Frage: ob es recht sei. Ich verwandle also die      
  27 Zumuthung der Selbstliebe in ein allgemeines Gesetz und richte die Frage      
  28 so ein: wie es dann stehen würde, wenn meine Maxime ein allgemeines      
  29 Gesetz würde. Da sehe ich nun sogleich, daß sie niemals ein allgemeines      
  30 Naturgesetz gelten und mit sich selbst zusammenstimmen könne, sondern      
  31 sich nothwendig widersprechen müsse. Denn die Allgemeinheit eines Gesetzes,      
  32 daß jeder, nachdem er in Noth zu sein glaubt, versprechen könne,      
  33 was ihm einfällt, mit dem Vorsatz, es nicht zu halten, würde das Versprechen      
  34 und den Zweck, den man damit haben mag, selbst unmöglich      
  35 machen, indem niemand glauben würde, daß ihm was versprochen sei,      
  36 sondern über alle solche Äußerung als eitles Vorgeben lachen würde.      
           
  37 3) Ein dritter findet in sich ein Talent, welches vermittelst einiger      
           
     

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