Kant: AA IV, Kritik der reinen Vernunft ... , Seite 022 |
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01 | kann, sondern auch mit dem Ausdruck der Nothwendigkeit, mithin gänzlich | ||||||
02 | a priori und aus bloßen Begriffen diese zweite Vorstellung zu der | ||||||
03 | ersteren hinzufügt. Nun beruht auf solchen synthetischen d. i. Erweiterungs | ||||||
04 | Grundsätzen die ganze Endabsicht unserer speculativen Erkenntniß | ||||||
05 | a priori; denn die analytischen sind zwar höchst wichtig und nötig, aber | ||||||
06 | nur um zu derjenigen Deutlichkeit der Begriffe zu gelangen, die zu einer | ||||||
07 | sicheren und ausgebreiteten Synthesis, als zu einem wirklich neuen Anbau, | ||||||
08 | erforderlich ist. | ||||||
09 | Es liegt also hier ein gewisses Geheimniß verborgen *), dessen Aufschluß | ||||||
10 | allein den Fortschritt in dem grenzenlosen Felde der reinen Verstandeserkenntniß | ||||||
11 | sicher und zuverlässig machen kann: nämlich mit gehöriger | ||||||
12 | Allgemeinheit den Grund der Möglichkeit synthetischer Urtheile | ||||||
13 | a priori aufzudecken, die Bedingungen, die eine jede Art derselben möglich | ||||||
14 | machen, einzusehen und diese ganze Erkenntniß (die ihre eigene Gattung | ||||||
15 | ausmacht) in einem System nach ihren ursprünglichen Quellen, Abtheilungen, | ||||||
16 | Umfang und Grenzen nicht durch einen flüchtigen Umkreis zu bezeichnen, | ||||||
17 | sondern vollständig und zu jedem Gebrauch hinreichend zu bestimmen. | ||||||
18 | So viel vorläufig von dem Eigenthümlichen, was die synthetischen | ||||||
19 | Urtheile an sich haben. | ||||||
20 | Aus diesem allem ergiebt sich nun die Idee einer besondern Wissenschaft, | ||||||
21 | die zur Kritik der reinen Vernunft dienen könne. Es heißt aber | ||||||
22 | jede Erkenntniß rein, die mit nichts Fremdartigem vermischt ist. Besonders | ||||||
23 | aber wird eine Erkenntniß schlechthin rein genannt, in die sich überhaupt | ||||||
24 | keine Erfahrung oder Empfindung einmischt, welche mithin völlig | ||||||
25 | a priori möglich ist. Nun ist Vernunft das Vermögen, welches die Principien | ||||||
26 | der Erkenntniß a priori an die Hand giebt. Daher ist reine Vernunft | ||||||
27 | diejenige, welche die Principien etwas schlechthin a priori zu erkennen | ||||||
28 | enthält. Ein Organon der reinen Vernunft würde ein Inbegriff derjenigen | ||||||
29 | Principien sein, nach denen alle reine Erkenntnisse a priori können | ||||||
30 | erworben und wirklich zu Stande gebracht werden. Die ausführliche Anwendung | ||||||
31 | eines solchen Organon würde ein System der reinen Vernunft | ||||||
32 | verschaffen. Da dieses aber sehr viel verlangt ist, und es noch dahin steht, | ||||||
*) Wäre es einem von den Alten eingefallen, auch nur diese Frage aufzuwerfen, so würde diese allein allen Systemen der reinen Vernunft bis auf unsere Zeit mächtig widerstanden haben und hätte so viele eitele Versuche erspart, die, ohne zu wissen, womit man eigentlich zu thun hat, blindlings unternommen worden. | |||||||
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