Kant: AA IV, Kritik der reinen Vernunft ... , Seite 009 |
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01 | ein Phänomen, das Aufmerksamkeit und Nachsinnen verdient. Sie ist | ||||||
02 | offenbar die Wirkung nicht des Leichtsinns, sondern der gereiften Urtheilskraft *) | ||||||
03 | des Zeitalters, welches sich nicht länger durch Scheinwissen | ||||||
04 | hinhalten läßt, und eine Aufforderung an die Vernunft, das beschwerlichste | ||||||
05 | aller ihrer Geschäfte, nämlich das der Selbsterkenntniß, aufs neue | ||||||
06 | zu übernehmen und einen Gerichtshof einzusetzen, der sie bei ihren gerechten | ||||||
07 | Ansprüchen sichere, dagegen aber alle grundlose Anmaßungen nicht | ||||||
08 | durch Machtsprüche, sondern nach ihren ewigen und unwandelbaren Gesetzen | ||||||
09 | abfertigen könne; und dieser ist kein anderer als die Kritik der | ||||||
10 | reinen Vernunft selbst. | ||||||
11 | Ich verstehe aber hierunter nicht eine Kritik der Bücher und Systeme, | ||||||
12 | sondern die des Vernunftvermögens überhaupt in Ansehung aller Erkenntnisse, | ||||||
13 | zu denen sie unabhängig von aller Erfahrung streben | ||||||
14 | mag, mithin die Entscheidung der Möglichkeit oder Unmöglichkeit einer | ||||||
15 | Metaphysik überhaupt und die Bestimmung sowohl der Quellen, als des | ||||||
16 | Umfanges und der Gränzen derselben, alles aber aus Principien. | ||||||
17 | Diesen Weg, den einzigen, der übrig gelassen war, bin ich nun eingeschlagen | ||||||
18 | und schmeichle mir, auf demselben die Abstellung aller Irrungen | ||||||
19 | angetroffen zu haben, die bisher die Vernunft im erfahrungsfreien | ||||||
20 | Gebrauche mit sich selbst entzweiet hatten. Ich bin ihren Fragen nicht | ||||||
21 | dadurch etwa ausgewichen, daß ich mich mit dem Unvermögen der menschlichen | ||||||
22 | Vernunft entschuldigte; sondern ich habe sie nach Principien vollständig | ||||||
23 | specificirt und, nachdem ich den Punkt des Mißverstandes der | ||||||
24 | Vernunft mit ihr selbst entdeckt hatte, sie zu ihrer völligen Befriedigung | ||||||
*) Man hört hin und wieder Klagen über Seichtigkeit der Denkungsart unserer Zeit und den Verfall gründlicher Wissenschaft. Allein ich sehe nicht, daß die, deren Grund gut gelegt ist, als Mathematik, Naturlehre etc., diesen Vorwurf im mindesten verdienen, sondern vielmehr den alten Ruhm der Gründlichkeit behaupten, in der letzteren aber sogar übertreffen. Eben derselbe Geist würde sich nun auch in anderen Arten von Erkenntniß wirksam beweisen, wäre nur allererst für die Berichtigung ihrer Principien gesorgt worden. In Ermangelung derselben sind Gleichgültigkeit und Zweifel und endlich strenge Kritik vielmehr Beweise einer gründlichen Denkungsart. Unser Zeitalter ist das eigentliche Zeitalter der Kritik, der sich alles unterwerfen muß. Religion durch ihre Heiligkeit und Gesetzgebung durch ihre Majestät wollen sich gemeiniglich derselben entziehen. Aber alsdann erregen sie gerechten Verdacht wider sich und können auf unverstellte Achtung nicht Anspruch machen, die die Vernunft nur demjenigen bewilligt, was ihre freie und öffentliche Prüfung hat aushalten können. | |||||||
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