Kant: AA III, Kritik der reinen Vernunft ... , Seite 467 |
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01 | und endlich vertilgt wird, die Disciplin. Sie ist von der Cultur | ||||||
02 | unterschieden, welche bloß eine Fertigkeit verschaffen soll, ohne eine andere, | ||||||
03 | schon vorhandene dagegen aufzuheben. Zu der Bildung eines Talents, | ||||||
04 | welches schon für sich selbst einen Antrieb zur Äußerung hat, wird | ||||||
05 | also die Disciplin einen negativen*), die Cultur aber und Doctrin einen | ||||||
06 | positiven Beitrag leisten. | ||||||
07 | Daß das Temperament, imgleichen daß Talente, die sich gern eine | ||||||
08 | freie und uneingeschränkte Bewegung erlauben, (als Einbildungskraft und | ||||||
09 | Witz) in mancher Absicht einer Disciplin bedürfen, wird jedermann leicht | ||||||
10 | zugeben. Daß aber die Vernunft, der es eigentlich obliegt, allen anderen | ||||||
11 | Bestrebungen ihre Disciplin vorzuschreiben, selbst noch eine solche nöthig | ||||||
12 | habe, das mag allerdings befremdlich scheinen; und in der That ist sie | ||||||
13 | auch einer solchen Demüthigung eben darum bisher entgangen, weil bei | ||||||
14 | der Feierlichkeit und dem gründlichen Anstande, womit sie auftritt, niemand | ||||||
15 | auf den Verdacht eines leichtsinnigen Spiels mit Einbildungen | ||||||
16 | statt Begriffen und Worten statt Sachen leichtlich gerathen konnte. | ||||||
17 | Es bedarf keiner Kritik der Vernunft im empirischen Gebrauche, weil | ||||||
18 | ihre Grundsätze am Probirstein der Erfahrung einer continuirlichen Prüfung | ||||||
19 | unterworfen werden; imgleichen auch nicht in der Mathematik, wo | ||||||
20 | ihre Begriffe an der reinen Anschauung sofort in concreto dargestellt werden | ||||||
21 | müssen, und jedes Ungegründete und Willkürliche dadurch alsbald | ||||||
22 | offenbar wird. Wo aber weder empirische noch reine Anschauung die Vernunft | ||||||
23 | in einem sichtbaren Geleise halten, nämlich in ihrem transscendentalen | ||||||
24 | Gebrauche nach bloßen Begriffen, da bedarf sie so sehr einer | ||||||
25 | Disciplin, die ihren Hang zur Erweiterung über die engen Grenzen möglicher | ||||||
26 | Erfahrung bändige und sie von Ausschweifung und Irrthum abhalte, | ||||||
27 | daß auch die ganze Philosophie der reinen Vernunft bloß mit diesem | ||||||
28 | negativen Nutzen zu thun hat. Einzelnen Verirrungen kann durch Censur | ||||||
*) Ich Weiß wohl, daß man in der Schulsprache den Namen der Disciplin mit dem der Unterweisung gleichgeltend zu brauchen pflegt. Allein es giebt dagegen so viele andere Fälle, da der erstere Ausdruck als Zucht von dem zweiten als Belehrung sorgfältig unterschieden wird, und die Natur der Dinge erheischt es auch selbst, für diesen Unterschied die einzigen schicklichen Ausdrücke aufzubewahren, daß ich wünsche, man möge niemals erlauben, jenes Wort in anderer als negativer Bedeutung zu brauchen. | |||||||
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