Kant: AA III, Kritik der reinen Vernunft ... , Seite 452 |
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01 | dieser Idee haben wir nicht den mindesten Grund schlechthin anzunehmen | ||||||
02 | (an sich zu supponiren); denn was kann uns wohl dazu | ||||||
03 | vermögen, oder auch nur berechtigen, ein Wesen von der höchsten Vollkommenheit | ||||||
04 | und als seiner Natur nach schlechthin nothwendig aus dessen | ||||||
05 | bloßem Begriffe an sich selbst zu glauben oder zu behaupten, wäre es nicht | ||||||
06 | die Welt, in Beziehung auf welche diese Supposition allein nothwendig | ||||||
07 | sein kann; und da zeigt es sich klar, daß die Idee desselben, so wie alle | ||||||
08 | speculative Ideen, nichts weiter sagen wolle, als daß die Vernunft gebiete, | ||||||
09 | alle Verknüpfung der Welt nach Principien einer systematischen Einheit | ||||||
10 | zu betrachten, mithin als ob sie insgesammt aus einem einzigen allbefassenden | ||||||
11 | Wesen als oberster und allgenugsamer Ursache entsprungen | ||||||
12 | wären. Hieraus ist klar, daß die Vernunft hiebei nichts als ihre eigene | ||||||
13 | formale Regel in Erweiterung ihres empirischen Gebrauchs zur Absicht | ||||||
14 | haben könne, niemals aber eine Erweiterung über alle Grenzen des empirischen | ||||||
15 | Gebrauchs, folglich unter dieser Idee kein constitutives Princip | ||||||
16 | ihres auf mögliche Erfahrung gerichteten Gebrauchs verborgen liege. | ||||||
17 | Die höchste formale Einheit, welche allein auf Vernunftbegriffen beruht, | ||||||
18 | ist die zweckmäßige Einheit der Dinge, und das speculative | ||||||
19 | Interesse der Vernunft macht es nothwendig, alle Anordnung in der Welt | ||||||
20 | so anzusehen, als ob sie aus der Absicht einer allerhöchsten Vernunft entsprossen | ||||||
21 | wäre. Ein solches Princip eröffnet nämlich unserer auf das Feld | ||||||
22 | der Erfahrungen angewandten Vernunft ganz neue Aussichten, nach teleologischen | ||||||
23 | Gesetzen die Dinge der Welt zu verknüpfen und dadurch zu der | ||||||
24 | größten systematischen Einheit derselben zu gelangen. Die Voraussetzung | ||||||
25 | einer obersten Intelligenz als der alleinigen Ursache des Weltganzen, aber | ||||||
26 | freilich bloß in der Idee kann also jederzeit der Vernunft nutzen und dabei | ||||||
27 | doch niemals schaden. Denn wenn wir in Ansehung der Figur der | ||||||
28 | Erde (der runden, doch etwas abgeplatteten)*), der Gebirge und Meere etc. | ||||||
29 | lauter weise Absichten eines Urhebers zum voraus annehmen, so können | ||||||
*) Der Vortheil, den eine kugelichte Erdgestalt schafft, ist bekannt genug; aber wenige wissen, daß ihre Abplattung als eines Sphäroids es allein verhindert, da nicht die Hervorragungen des festen Landes oder auch kleinerer, vielleicht durch Erdbeben aufgeworfener Berge die Achse der Erde continuirlich und in nicht eben langer Zeit ansehnlich verrücken, wäre nicht die Aufschwellung der Erde unter der Linie ein so gewaltiger Berg, den der Schwung jedes andern Berges niemals merklich aus seiner Lage in Ansehung der Achse bringen kann. Und doch erklärt man diese weise Anstalt ohne Bedenken aus dem Gleichgewicht der ehmals flüssigen Erdmasse. | |||||||
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