Kant: AA III, Kritik der reinen Vernunft ... , Seite 412

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 und ihr in der Welt niemals dahin gelangen könnt, weil die zweite Regel      
  02 euch gebietet, alle empirische Ursachen der Einheit jederzeit als abgeleitet      
  03 anzusehen.      
           
  04 Die Philosophen des Alterthums sahen alle Form der Natur als zufällig,      
  05 die Materie aber nach dem Urtheile der gemeinen Vernunft als      
  06 ursprünglich und nothwendig an. Würden sie aber die Materie nicht als      
  07 Substratum der Erscheinungen respectiv, sondern an sich selbst ihrem      
  08 Dasein nach betrachtet haben, so wäre die Idee der absoluten Nothwendigkeit      
  09 sogleich verschwunden. Denn es ist nichts, was die Vernunft an dieses      
  10 Dasein schlechthin bindet, sondern sie kann solches jederzeit und ohne      
  11 Widerstreit in Gedanken aufheben; in Gedanken aber lag auch allein die      
  12 absolute Nothwendigkeit. Es mußte also bei dieser Überredung ein gewisses      
  13 regulatives Princip zum Grunde liegen. In der That ist auch Ausdehnung      
  14 und Undurchdringlichkeit (die zusammen den Begriff von Materie      
  15 ausmachen) das oberste empirische Principium der Einheit der Erscheinungen      
  16 und hat, so fern als es empirisch unbedingt ist, eine Eigenschaft      
  17 des regulativen Princips an sich. Gleichwohl, da jede Bestimmung der      
  18 Materie, welche das Reale derselben ausmacht, mithin auch die Undurchdringlichkeit      
  19 eine Wirkung (Handlung) ist, die ihre Ursache haben mu      
  20 und daher immer noch abgeleitet ist, so schickt sich die Materie doch nicht      
  21 zur Idee eines nothwendigen Wesens als eines Princips aller abgeleiteten      
  22 Einheit: weil jede ihrer realen Eigenschaften, als abgeleitet, nur bedingt      
  23 nothwendig ist und also an sich aufgehoben werden kann, hiemit aber das      
  24 ganze Dasein der Materie aufgehoben werden würde, wenn dieses aber      
  25 nicht geschähe, wir den höchsten Grund der Einheit empirisch erreicht haben      
  26 würden, welches durch das zweite regulative Princip verboten wird. So      
  27 folgt, daß die Materie und überhaupt, was zur Welt gehörig ist, zu der      
  28 Idee eines nothwendigen Urwesens als eines bloßen Princips der größten      
  29 empirischen Einheit nicht schicklich sei, sondern daß es außerhalb der Welt      
  30 gesetzt werden müsse; da wir denn die Erscheinungen der Welt und ihr      
  31 Dasein immer getrost von anderen ableiten können, als ob es kein nothwendiges      
  32 Wesen gäbe, und dennoch zu der Vollständigkeit der Ableitung      
  33 unaufhörlich streben können, als ob ein solches als ein oberster Grund      
  34 vorausgesetzt wäre.      
           
  35 Das Ideal des höchsten Wesens ist nach diesen Betrachtungen nichts      
  36 anders, als ein regulatives Princip der Vernunft, alle Verbindung      
  37 in der Welt so anzusehen, als ob sie aus einer allgenugsamen nothwendigen      
           
     

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