Kant: AA III, Kritik der reinen Vernunft ... , Seite 054

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01
§ 3.
     
           
  02
Transscendentale Erörterung des Begriffs vom Raume.
     
           
  03 Ich verstehe unter einer transscendentalen Erörterung die Erklärung      
  04 eines Begriffs als eines Princips, woraus die Möglichkeit anderer      
  05 synthetischer Erkenntnisse a priori eingesehen werden kann. Zu dieser      
  06 Absicht wird erfordert: 1) daß wirklich dergleichen Erkenntnisse aus dem      
  07 gegebenen Begriffe herfließen, 2) daß diese Erkenntnisse nur unter der      
  08 Voraussetzung einer gegebenen Erklärungsart dieses Begriffs möglich sind.      
  09 Geometrie ist eine Wissenschaft, welche die Eigenschaften des Raums      
  10 synthetisch und doch a priori bestimmt. Was muß die Vorstellung des      
  11 Raumes denn sein, damit eine solche Erkenntniß von ihm möglich sei? Er      
  12 muß ursprünglich Anschauung sein; denn aus einem bloßen Begriffe lassen      
  13 sich keine Sätze, die über den Begriff hinausgehen, ziehen, welches doch in      
  14 der Geometrie geschieht (Einleitung V). Aber diese Anschauung mu      
  15 a priori, d. i. vor aller Wahrnehmung eines Gegenstandes, in uns angetroffen      
  16 werden, mithin reine, nicht empirische Anschauung sein. Denn die      
  17 geometrischen Sätze sind insgesammt apodiktisch, d. i. mit dem Bewußtsein      
  18 ihrer Nothwendigkeit verbunden, z. B. der Raum hat nur drei Abmessungen;      
  19 dergleichen Sätze aber können nicht empirische oder Erfahrungsurtheile      
  20 sein, noch aus ihnen geschlossen werden (Einleit. II).      
           
  21 Wie kann nun eine äußere Anschauung dem Gemüthe beiwohnen, die      
  22 vor den Objecten selbst vorhergeht, und in welcher der Begriff der letzteren      
  23 a priori bestimmt werden kann? Offenbar nicht anders, als sofern sie      
  24 bloß im Subjecte, als die formale Beschaffenheit desselben von Objecten      
  25 afficirt zu werden und dadurch unmittelbare Vorstellung derselben,      
  26 d. i. Anschauung, zu bekommen, ihren Sitz hat, also nur als Form des      
  27 äußeren Sinnes überhaupt.      
           
  28 Also macht allein unsere Erklärung die Möglichkeit der Geometrie      
  29 als einer synthetischen Erkenntniß a priori begreiflich. Eine jede      
  30 Erklärungsart, die dieses nicht liefert, wenn sie gleich dem Anscheine nach      
  31 mit ihr einige Ähnlichkeit hätte, kann an diesen Kennzeichen am sichersten      
  32 von ihr unterschieden werden.      
           
           
     

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