Kant: AA II, Träume eines Geistersehers, ... , Seite 369

     
           
 

Zeile:

 

Text (Kant):

 

 

 

 
  01 der Gelehrsamkeit nicht übel ansteht. Allein unter unzähligen Aufgaben,      
  02 die sich selbst darbieten, diejenige auswählen, deren Auflösung dem      
  03 Menschen angelegen ist, ist das Verdienst der Weisheit. Wenn die      
  04 Wissenschaft ihren Kreis durchlaufen hat, so gelangt sie natürlicher Weise      
  05 zu dem Punkte eines bescheidenen Mißtrauens und sagt, unwillig über      
  06 sich selbst: Wie viel Dinge giebt es doch, die ich nicht einsehe!      
  07 Aber die durch Erfahrung gereifte Vernunft, welche zur Weisheit wird,      
  08 spricht in dem Munde des Sokrates mitten unter den Waaren eines      
  09 Jahrmarkts mit heiterer Seele: Wie viel Dinge giebt es doch, die      
  10 ich alle nicht brauche! Auf solche Art fließen endlich zwei Bestrebungen      
  11 von so unähnlicher Natur in eine zusammen, ob sie gleich anfangs      
  12 nach sehr verschiedenen Richtungen ausgingen, indem die erste eitel und      
  13 unzufrieden, die zweite aber gesetzt und gnügsam ist. Denn um vernünftig      
  14 zu wählen, muß man vorher selbst das Entbehrliche, ja das Unmögliche      
  15 kennen; aber endlich gelangt die Wissenschaft zu der Bestimmung der      
  16 ihr durch die Natur der menschlichen Vernunft gesetzten Grenzen; alle      
  17 bodenlose Entwürfe aber, die vielleicht an sich selbst nicht unwürdig sein      
  18 mögen, nur daß sie außer der Sphäre des Menschen liegen, fliehen auf      
  19 den Limbus der Eitelkeit. Alsdann wird selbst die Metaphysik dasjenige,      
  20 wovon sie jetzt noch ziemlich weit entfernt ist, und was man von ihr am      
  21 wenigsten vermuthen sollte, die Begleiterin der Weisheit. Denn so      
  22 lange die Meinung einer Möglichkeit, zu so entfernten Einsichten zu gelangen,      
  23 übrig bleibt, so ruft die weise Einfalt vergeblich, daß solche      
  24 große Bestrebungen entbehrlich seien. Die Annehmlichkeit, welche die Erweiterung      
  25 des Wissens begleitet, wird sehr leicht den Schein der Pflichtmäßigkeit      
  26 annehmen und aus jener vorsetzlichen und überlegten Gnügsamkeit      
  27 eine dumme Einfalt machen, die sich der Veredelung unserer      
  28 Natur entgegensetzen will. Die Fragen von der geistigen Natur, von der      
  29 Freiheit und Vorherbestimmung, dem künftigen Zustande u. d. g. bringen      
  30 anfänglich alle Kräfte des Verstandes in Bewegung und ziehen den Menschen      
  31 durch ihre Vortrefflichkeit in den Wetteifer der Speculation, welche      
  32 ohne Unterschied klügelt und entscheidet, lehrt oder widerlegt, wie es die      
  33 Scheineinsicht jedesmal mit sich bringt. Wenn diese Nachforschung aber      
  34 in Philosophie ausschlägt, die über ihr eigen Verfahren urtheilt, und die      
  35 nicht die Gegenstände allein, sondern deren Verhältniß zu dem Verstande      
  36 des Menschen kennt, so ziehen sich die Grenzen enger zusammen, und die      
  37 Marksteine werden gelegt, welche die Nachforschung aus ihrem eigenthümlichen      
           
     

[ Seite 368 ] [ Seite 370 ] [ Inhaltsverzeichnis ]