Kant: AA II, Träume eines Geistersehers, ... , Seite 356 |
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01 | Aufenthalt mit allen Zeichen der Bestürzung die Nachricht, daß eben jetzt | ||||||
02 | in Stockholm im Südermalm eine erschreckliche Feuersbrunst wüthe. | ||||||
03 | Nach Verlauf einiger Stunden, binnen welchen er sich dann und wann | ||||||
04 | entfernte, berichtete er der Gesellschaft, daß das Feuer gehemmt sei, imgleichen | ||||||
05 | wie weit es um sich gegriffen habe. Eben denselben Abend verbreitete | ||||||
06 | sich schon diese wunderliche Nachricht und war den andern Morgen | ||||||
07 | in der ganzen Stadt herumgetragen; allein nach zwei Tagen allererst | ||||||
08 | kam der Bericht davon aus Stockholm in Gothenburg an, völlig einstimmig, | ||||||
09 | wie man sagt, mit Schwedenbergs Visionen. | ||||||
10 | Man wird vermuthlich fragen, was mich doch immer habe bewegen | ||||||
11 | können ein so verachtetes Geschäfte zu übernehmen, als dieses ist, Märchen | ||||||
12 | weiter zu bringen, die ein Vernünftiger Bedenken trägt mit Geduld anzuhören, | ||||||
13 | ja solche gar zum Text philosophischer Untersuchungen zu machen. | ||||||
14 | Allein da die Philosophie, welche wir voranschickten, eben so wohl ein Märchen | ||||||
15 | war aus dem Schlaraffenlande der Metaphysik, so sehe ich nichts | ||||||
16 | Unschickliches darin, beide in Verbindung auftreten zu lassen; und warum | ||||||
17 | sollte es auch eben rühmlicher sein, sich durch das blinde Vertrauen in die | ||||||
18 | Scheingründe der Vernunft, als durch unbehutsamen Glauben an betrügliche | ||||||
19 | Erzählungen hintergehen zu lassen? | ||||||
20 | Thorheit und Verstand haben so unkenntlich bezeichnete Grenzen, | ||||||
21 | daß man schwerlich in dem einen Gebiete lange fortgeht, ohne bisweilen | ||||||
22 | einen kleinen Streif in das andre zu thun; aber was die Treuherzigkeit | ||||||
23 | anlangt, die sich bereden läßt, vielen festen Betheurungen selbst wider die | ||||||
24 | Gegenwehr des Verstandes bisweilen etwas einzuräumen, so scheint sie | ||||||
25 | ein Rest der alten Stammehrlichkeit zu sein, die freilich auf den jetzigen | ||||||
26 | Zustand nicht recht paßt und daher oft zur Thorheit wird, aber darum | ||||||
27 | doch eben nicht als ein natürliches Erbstück der Dummheit angesehen | ||||||
28 | werden muß. Daher überlasse ich es dem Belieben des Lesers bei der | ||||||
29 | wunderlichen Erzählung, mit welcher ich mich bemenge, jene zweideutige | ||||||
30 | Mischung von Vernunft und Leichtgläubigkeit in ihre Elemente aufzulösen | ||||||
31 | und die Proportion beider Ingredientien für meine Denkungsart auszurechnen. | ||||||
32 | Denn da es bei einer solchen Kritik doch nur um die Anständigkeit | ||||||
33 | zu thun ist, so halte ich mich gnugsam vor dem Spott gesichert, dadurch | ||||||
34 | daß ich mit dieser Thorheit, wenn man sie so nennen will, mich | ||||||
35 | gleichwohl in recht guter und zahlreicher Gesellschaft befinde, welches schon | ||||||
36 | gnug ist, wie Fontenelle glaubt, um wenigstens nicht für unklug gehalten | ||||||
37 | zu werden. Denn es ist zu allen Zeiten so gewesen und wird auch | ||||||
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