Kant: AA II, Träume eines Geistersehers, ... , Seite 345 |
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01 | Vielleicht kann man eben so bei den Eindrücken des Schalles, weil | ||||||
02 | dessen Stöße auch nach geraden Linien geschehen, annehmen: daß die Empfindung | ||||||
03 | desselben zugleich mit der Vorstellung eines foci imaginarii begleitet | ||||||
04 | sei, der dahin gesetzt wird, wo die gerade Linien des in Bebung | ||||||
05 | gesetzten Nervengebäudes, im Gehirne äußerlich fortgezogen, zusammenstoßen. | ||||||
06 | Denn man bemerkt die Gegend und Weite eines schallenden Objects | ||||||
07 | einigermaßen, wenn der Schall gleich leise ist und hinter uns geschieht, | ||||||
08 | obschon die gerade Linien, die von da gezogen werden können, | ||||||
09 | eben nicht die Eröffnung des Ohres treffen, sondern auf andere Stellen des | ||||||
10 | Haupts fallen, so daß man glauben muß, die Richtungslinien der Erschütterung | ||||||
11 | werden in der Vorstellung der Seele äußerlich fortgezogen und | ||||||
12 | das schallende Object in den Punkt ihres Zusammenstoßes versetzt. Eben | ||||||
13 | dasselbe kann, wie mich dünkt, auch von den übrigen drei Sinnen gesagt | ||||||
14 | werden, welche sich darin von dem Gesichte und dem Gehör unterscheiden, | ||||||
15 | daß der Gegenstand der Empfindung mit den Organen in unmittelbarer | ||||||
16 | Berührung steht, und die Richtungslinien des sinnlichen Reizes daher in | ||||||
17 | diesen Organen selbst ihren Punkt der Vereinigung haben. | ||||||
18 | Um dieses auf die Bilder der Einbildung anzuwenden, so erlaube man | ||||||
19 | mir dasjenige, was Cartesius annahm und die mehrsten Philosophen | ||||||
20 | nach ihm billigten, zum Grunde zu legen: nämlich daß alle Vorstellungen | ||||||
21 | der Einbildungskraft zugleich mit gewissen Bewegungen in dem Nervengewebe | ||||||
22 | oder Nervengeiste des Gehirnes begleitet sind, welche man ideas | ||||||
23 | materiales nennt, d. i. vielleicht mit der Erschütterung oder Bebung des | ||||||
24 | feinen Elements, welches von ihnen abgesondert wird, und die derjenigen | ||||||
25 | Bewegung ähnlich ist, welche der sinnliche Eindruck machen könnte, wovon | ||||||
26 | er die Copie ist. Nun verlange ich aber mir einzuräumen: daß der vornehmste | ||||||
27 | Unterschied der Nervenbewegung in den Phantasien von der in | ||||||
28 | der Empfindung darin bestehe, daß die Richtungslinien der Bewegung | ||||||
29 | bei jener sich innerhalb dem Gehirne, bei dieser aber außerhalb schneiden; | ||||||
30 | daher, weil der focus imaginarius , darin das Object vorgestellt wird, bei | ||||||
31 | den klaren Empfindungen des Wachens außer mir, der von den Phantasien | ||||||
32 | aber, die ich zu der Zeit etwa habe, in mir gesetzt wird, ich, so lange | ||||||
33 | ich wache, nicht fehlen kann die Einbildungen als meine eigene Hirngespinste | ||||||
34 | von dem Eindruck der Sinne zu unterscheiden. | ||||||
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