Kant: AA II, Untersuchung über die ... , Seite 295 |
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| 01 | sein. Nun giebt es in der Weltweisheit viel unerweisliche | ||||||
| 02 | Sätze, wie auch oben angeführt worden. Diese stehen zwar alle unter den | ||||||
| 03 | formalen ersten Grundsätzen, aber unmittelbar; in so fern sie indessen zugleich | ||||||
| 04 | Gründe von andern Erkenntnissen enthalten, so sind sie die ersten | ||||||
| 05 | materiale Grundsätze der menschlichen Vernunft. Z. E. Ein Körper ist | ||||||
| 06 | zusammengesetzt, ist ein unerweislicher Satz, in so fern das Prädicat | ||||||
| 07 | als ein unmittelbares und erstes Merkmal in dem Begriffe des Körpers | ||||||
| 08 | nur kann gedacht werden. Solche materiale Grundsätze machen, wie | ||||||
| 09 | Crusius mit Recht sagt, die Grundlage und Festigkeit der menschlichen | ||||||
| 10 | Vernunft aus. Denn wie wir oben erwähnt haben, sind sie der Stoff zu | ||||||
| 11 | Erklärungen und die Data , woraus sicher kann geschlossen werden, wenn | ||||||
| 12 | man auch keine Erklärung hat. | ||||||
| 13 | Und hierin hat Crusius Recht, wenn er andere Schulen der Weltweisen | ||||||
| 14 | tadelt, daß sie diese materiale Grundsätze vorbei gegangen seien | ||||||
| 15 | und sich blos an die formale gehalten haben. Denn aus diesen allein kann | ||||||
| 16 | wirklich gar nichts bewiesen werden, weil Sätze erfordert werden, die den | ||||||
| 17 | Mittelbegriff enthalten, wodurch das logische Verhältniß anderer Begriffe | ||||||
| 18 | soll in einem Vernunftschlusse erkannt werden können, und unter diesen | ||||||
| 19 | Sätzen müssen einige die ersten sein. Allein man kann nimmermehr | ||||||
| 20 | einigen Sätzen den Werth materialer oberster Grundsätze einräumen, | ||||||
| 21 | wenn sie nicht für jeden menschlichen Verstand augenscheinlich sind. Ich | ||||||
| 22 | halte aber dafür, daß verschiedene von denen, die Crusius anführt, sogar | ||||||
| 23 | ansehnliche Zweifel verstatten. | ||||||
| 24 | Was aber die oberste Regel aller Gewißheit, die dieser berühmte | ||||||
| 25 | Mann aller Erkenntniß und also auch der metaphysischen vorzusetzen gedenkt, | ||||||
| 26 | anlangt: was ich nicht anders als wahr denken kann, das | ||||||
| 27 | ist wahr etc., so ist leicht einzusehen, daß dieser Satz niemals ein | ||||||
| 28 | Grund der Wahrheit von irgend einem Erkenntnisse sein könne. Denn | ||||||
| 29 | wenn man gesteht, daß kein anderer Grund der Wahrheit könne angegeben | ||||||
| 30 | werden, als weil man es unmöglich anders als für wahr halten | ||||||
| 31 | könne, so giebt man zu verstehen, daß gar kein Grund der Wahrheit weiter | ||||||
| 32 | angeblich sei, und daß die Erkenntniß unerweislich sei. Nun giebt es | ||||||
| 33 | freilich wohl viele unerweisliche Erkenntnisse, allein das Gefühl der Überzeugung | ||||||
| 34 | in Ansehung derselben ist ein Geständniß, aber nicht ein Beweisgrund | ||||||
| 35 | davon, daß sie wahr sind. | ||||||
| 36 | Die Metaphysik hat demnach keine formale oder materiale Gründe | ||||||
| 37 | der Gewißheit, die von anderer Art wären als die der Meßkunst. In beiden | ||||||
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