Kant: AA II, Versuch über die Krankheiten ... , Seite 259 |
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Text (Kant):
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01 | Versuch |
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02 | über die Krankheiten des Kopfes. |
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03 | Die Einfalt und Gnügsamkeit der Natur fordert und bildet an dem | ||||||
04 | Menschen nur gemeine Begriffe und eine plumpe Redlichkeit, der künstliche | ||||||
05 | Zwang und die Üppigkeit der bürgerlichen Verfassung heckt Witzlinge | ||||||
06 | und Vernünftler, gelegentlich aber auch Narren und Betrüger aus und | ||||||
07 | gebiert den weisen oder sittsamen Schein, bei dem man sowohl des Verstandes | ||||||
08 | als der Rechtschaffenheit entbehren kann, wenn nur der schöne | ||||||
09 | Schleier dichte genug gewebt ist, den die Anständigkeit über die geheime | ||||||
10 | Gebrechen des Kopfes oder des Herzens ausbreitet. Nach dem Maße, als | ||||||
11 | die Kunst hoch steigt, werden Vernunft und Tugend endlich das allgemeine | ||||||
12 | Losungswort, doch so, daß der Eifer von beiden zu sprechen wohl unterwiesene | ||||||
13 | und artige Personen überheben kann sich mit ihrem Besitze zu | ||||||
14 | belästigen. Die allgemeine Achtung, darin beide gepriesene Eigenschaften | ||||||
15 | stehen, macht gleichwohl diesen merklichen Unterschied, daß jedermann weit | ||||||
16 | eifersüchtiger auf die Verstandesvorzüge als auf die guten Eigenschaften | ||||||
17 | des Willens ist, und daß in der Vergleichung zwischen Dummheit und | ||||||
18 | Schelmerei niemand einen Augenblick ansteht, sich zum Vortheil der letzteren | ||||||
19 | zu erklären; welches auch gewiß sehr gut ausgedacht ist, weil, wenn | ||||||
20 | alles überhaupt auf Kunst ankommt, die feine Schlauigkeit nicht kann entbehrt | ||||||
21 | werden, wohl aber die Redlichkeit, die in solchem Verhältnisse nur | ||||||
22 | hinderlich ist. Ich lebe unter weisen und wohlgesitteten Bürgern, nämlich | ||||||
23 | unter denen, die sich darauf verstehen so zu scheinen, und ich schmeichle mir, | ||||||
24 | man werde so billig sein, mir von dieser Feinigkeit auch so viel zuzutrauen, | ||||||
25 | daß, wenn ich gleich in dem Besitze der bewährtesten Heilungsmittel wäre, | ||||||
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