Kant: AA II, Versuch den Begriff der ... , Seite 168 |
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| 01 | Wissenschaften, deren die eine alle insgesammt an Gewißheit und Deutlichkeit | ||||||
| 02 | übertrifft, die andere aber sich allererst bestrebt dazu zu gelangen. | ||||||
| 03 | Die Metaphysik sucht z. E. die Natur des Raumes und den obersten | ||||||
| 04 | Grund zu finden, daraus sich dessen Möglichkeit verstehen läßt. Nun kann | ||||||
| 05 | wohl hiezu nichts behülflicher sein, als wenn man zuverlässig erwiesene | ||||||
| 06 | Data irgend woher entlehnen kann, um sie in seiner Betrachtung zum | ||||||
| 07 | Grunde zu legen. Die Geometrie liefert deren einige, welche die allgemeinsten | ||||||
| 08 | Eigenschaften des Raumes betreffen, z. E. daß der Raum gar | ||||||
| 09 | nicht aus einfachen Theilen bestehe; allein man geht sie vorbei und setzt | ||||||
| 10 | sein Zutrauen lediglich auf das zweideutige Bewußtsein dieses Begriffs, | ||||||
| 11 | indem man ihn auf eine ganz abstracte Art denkt. Wenn dann die | ||||||
| 12 | Speculation nach diesem Verfahren mit den Sätzen der Mathematik nicht | ||||||
| 13 | übereinstimmen will, so sucht man seinen erkünstelten Begriff durch den | ||||||
| 14 | Vorwurf zu retten, den man dieser Wissenschaft macht, als wenn die Begriffe, | ||||||
| 15 | die sie zum Grunde legt, nicht von der wahren Natur des Raumes | ||||||
| 16 | abgezogen, sondern willkürlich ersonnen worden. Die mathematische Betrachtung | ||||||
| 17 | der Bewegung, verbunden mit der Erkenntniß des Raumes, | ||||||
| 18 | geben gleicher Gestalt viel Data an die Hand, um die metaphysische Betrachtung | ||||||
| 19 | von der Zeit in dem Gleise der Wahrheit zu erhalten. Der berühmte | ||||||
| 20 | Herr Euler hat hiezu unter andern einige Veranlassung gegeben,*) | ||||||
| 21 | allein es scheint bequemer, sich in finstern und schwer zu prüfenden Abstractionen | ||||||
| 22 | aufzuhalten, als mit einer Wissenschaft in Verbindung zu | ||||||
| 23 | treten, welche nur an verständlichen und augenscheinlichen Einsichten | ||||||
| 24 | Theil nimmt. | ||||||
| 25 | Der Begriff des unendlich Kleinen, darauf die Mathematik so öftern | ||||||
| 26 | hinaus kommt, wird mit einer angemaßten Dreistigkeit so gerade zu als | ||||||
| 27 | erdichtet verworfen, anstatt daß man eher vermuthen sollte, daß man noch | ||||||
| 28 | nicht genug davon verstände, um ein Urtheil darüber zu fällen. Die | ||||||
| 29 | Natur selbst scheint gleichwohl nicht undeutliche Beweisthümer an die | ||||||
| 30 | Hand zu geben, daß dieser Begriff sehr wahr sei. Denn wenn es Kräfte | ||||||
| 31 | giebt, welche eine Zeit hindurch continuirlich wirken, um Bewegungen | ||||||
| 32 | hervorzubringen, wie allem Ansehen nach die Schwere ist, so muß die | ||||||
| 33 | Kraft, die sie im Anfangsaugenblicke oder in Ruhe ausübt, gegen die, | ||||||
| 34 | welche sie in einer Zeit mittheilt, unendlich klein sein. Es ist schwer, ich | ||||||
| 35 | gestehe es, in die Natur dieser Begriffe hineinzudringen; aber diese | ||||||
| *) Histoire de l'Acad. Royale des sc. et belles lettr. l'ann. 1748. | |||||||
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