Kant: AA II, Die falsche Spitzfindigkeit der ... , Seite 059 |
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01 | deutlich ist. Ist die Vollständigkeit vom ersten Grade, so ist der Vernunftschluß | ||||||
02 | ein einfacher, ist sie vom zweiten oder dritten, so ist sie nur durch | ||||||
03 | eine Reihe von Kettenschlüssen, die der Verstand nach der Art eines Sorites | ||||||
04 | verkürzt, möglich. Hieraus erhellt auch ein wesentlicher Fehler der Logik, | ||||||
05 | so wie sie gemeiniglich abgehandelt wird, daß von den deutlichen und vollständigen | ||||||
06 | Begriffen eher gehandelt wird, wie von Urtheilen und Vernunftschlüssen, | ||||||
07 | obgleich jene nur durch diese möglich sind. | ||||||
08 | Zweitens eben so augenscheinlich wie es ist, daß zum vollständigen | ||||||
09 | Begriffe keine andere Grundkraft der Seele erfordert werde, wie zum deutlichen | ||||||
10 | (indem eben dieselbe Fähigkeit, die etwas unmittelbar als ein Merkmal | ||||||
11 | in einem Dinge erkennt, auch in diesem Merkmale wieder ein anderes | ||||||
12 | Merkmal vorzustellen und also die Sache durch ein entferntes Merkmal zu | ||||||
13 | denken gebraucht wird): eben so leicht fällt es auch in die Augen, daß | ||||||
14 | Verstand und Vernunft, d. i. das Vermögen, deutlich zu erkennen und | ||||||
15 | dasjenige, Vernunftschlüsse zu machen, keine verschiedene Grundfähigkeiten | ||||||
16 | seien. Beide bestehen im Vermögen zu urtheilen; wenn man aber | ||||||
17 | mittelbar urtheilt, so schließt man. | ||||||
18 | Drittens ist hieraus auch abzunehmen, daß die obere Erkenntnißkraft | ||||||
19 | schlechterdings nur auf dem Vermögen zu urtheilen beruhe. Demnach | ||||||
20 | wenn ein Wesen urtheilen kann, so hat es die obere Erkenntnißfähigkeit. | ||||||
21 | Findet man Ursache, ihm diese letztere abzusprechen, so vermag es auch | ||||||
22 | nicht zu urtheilen. Die Verabsäumung solcher Betrachtungen hat einen | ||||||
23 | berühmten Gelehrten veranlaßt, den Thieren deutliche Begriffe zuzustehn. | ||||||
24 | Ein Ochs, heißt es, hat in seiner Vorstellung vom Stalle doch auch eine | ||||||
25 | klare Vorstellung von seinem Merkmale der Thüre, also einen deutlichen | ||||||
26 | Begriff vom Stalle. Es ist leicht, hier die Verwirrung zu verhüten. Nicht | ||||||
27 | darin besteht die Deutlichkeit eines Begriffs, daß dasjenige, was ein Merkmal | ||||||
28 | vom Dinge ist, klar vorgestellt werde, sondern daß es als ein Merkmal | ||||||
29 | des Dinges erkannt werde. Die Thüre ist zwar etwas zum Stalle Gehöriges | ||||||
30 | und kann zum Merkmal desselben dienen, aber nur derjenige, der das Urtheil | ||||||
31 | abfaßt: diese Thüre gehört zu diesem Stalle, hat einen deutlichen | ||||||
32 | Begriff von dem Gebäude, und dieses ist sicherlich über das Vermögen | ||||||
33 | des Viehes. | ||||||
34 | Ich gehe noch weiter und sage: es ist ganz was anders Dinge von | ||||||
35 | einander unterscheiden und den Unterschied der Dinge erkennen. Das | ||||||
36 | letztere ist nur durch Urtheilen möglich und kann von keinem unvernünftigen | ||||||
37 | Thiere geschehen. Folgende Eintheilung kann von großem Nutzen sein. | ||||||
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