Kant: AA II, Versuch einiger Betrachtungen ... , Seite 033

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 kann. Hier ist es nicht so wie bei der mathematischen Unendlichkeit, daß      
  02 das Endliche durch eine beständig fortgesetzte und immer mögliche Steigerung      
  03 mit dem Unendlichen nach dem Gesetze der Continuität zusammenhängt.      
  04 Hier ist der Abstand der unendlichen Realität und der endlichen      
  05 durch eine bestimmte Größe, die ihren Unterschied ausmacht, festgesetzt.      
  06 Und die Welt, die sich auf derjenigen Sprosse von der Leiter der Wesen      
  07 befindet, wo die Kluft anhebt, die die unermeßlichen Grade der Vollkommenheit      
  08 enthält, welche den Ewigen über jedes Geschöpf erheben, diese      
  09 Welt, sage ich, ist das Vollkommenste unter allem, was endlich ist.      
           
  10 Mich deucht, man könne anjetzt mit einer Gewißheit, welcher die      
  11 Gegner wenigstens nichts Größeres entgegen zu setzen haben, einsehen:      
  12 es sei unter allem Endlichen, was möglich war, eine Welt von der größten      
  13 Vortrefflichkeit das höchste endliche Gut, allein würdig von dem obersten      
  14 unter allen Wesen gewählt zu werden, um mit dem Unendlichen zusammengenommen      
  15 die größte Summe, die sein kann, auszumachen.      
           
  16 Wenn man mir das oben Bewiesene zugiebt, wenn man mit mir einstimmig      
  17 ist, daß unter allen möglichen Welten eine nothwendig die vollkommenste      
  18 sei, so verlange ich nicht ferner zu streiten. Nicht alle Ausschweifung      
  19 in Meinungen kann uns zu der Bemühung verbindlich machen      
  20 sie mit Sorgfalt zu beantworten. Wenn sich jemand aufwirft zu behaupten,      
  21 die höchste Weisheit habe das Schlechtere besser finden können als das      
  22 Beste, oder die höchste Güte habe sich ein kleiner Gut mehr belieben lassen      
  23 als ein größeres, welches eben so wohl in ihrer Gewalt war, so halte ich      
  24 mich nicht länger auf. Man bedient sich der Weltweisheit sehr schlecht,      
  25 wenn man sie dazu gebraucht die Grundsätze der gesunden Vernunft umzukehren,      
  26 und man thut ihr wenig Ehre an, wenn man, um solche Bemühungen      
  27 zu widerlegen, es noch nöthig findet ihre Waffen aufzubieten.      
           
  28 Derjenige, welchem es zu weitläuftig wäre, sich in alle die feinen      
  29 Fragen, die wir bis daher aufgeworfen und beantwortet haben, stückweise      
  30 einzulassen, würde zwar mit etwas weniger Schulgelehrsamkeit, aber      
  31 vielleicht mit eben so bündigem Urtheil eines richtigen Verstandes von derselben      
  32 Wahrheit weit leichter können überzeugt werden. Er würde so      
  33 schließen: Eine vollkommenste Welt ist möglich, weil sie wirklich ist, und      
  34 sie ist wirklich, weil sie durch den weisesten und gütigsten Rathschluß ist      
  35 hervorgebracht worden. Entweder ich kann mir gar keinen Begriff von      
  36 einer Wahl machen, oder man wählt nach Belieben; was aber beliebt, das      
  37 gefällt; gefallen aber und für gut halten, vorzüglich belieben, sich vorzüglich      
           
     

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