Kant: AA I, Allgemeine Naturgeschichte und ... , Seite 357 |
|||||||
Zeile:
|
Text (Kant):
|
|
|
||||
01 | Sonnenblicke, wenn dicke Wolken ihre Heiterkeit unablässig unterbrechen | ||||||
02 | und verdunkeln. | ||||||
03 | Diese Grobheit des Stoffes und des Gewebes in dem Baue der | ||||||
04 | menschlichen Natur ist die Ursache derjenigen Trägheit, welche die Fähigkeiten | ||||||
05 | der Seele in einer beständigen Mattigkeit und Kraftlosigkeit erhält. | ||||||
06 | Die Handlung des Nachdenkens und der durch die Vernunft | ||||||
07 | aufgeklärten Vorstellungen ist ein mühsamer Zustand, darein die Seele | ||||||
08 | sich nicht ohne Widerstand setzen kann, und aus welchem sie durch einen | ||||||
09 | natürlichen Hang der körperlichen Maschine alsbald in den leidenden | ||||||
10 | Zustand zurückfällt, da die sinnlichen Reizungen alle ihre Handlungen | ||||||
11 | bestimmen und regieren. | ||||||
12 | Diese Trägheit seiner Denkungskraft, welche eine Folge der Abhängigkeit | ||||||
13 | von einer groben und ungelenksamen Materie ist, ist nicht | ||||||
14 | allein die Quelle des Lasters, sondern auch des Irrthums. Durch die | ||||||
15 | Schwierigkeit, welche mit der Bemühung verbunden ist, den Nebel der | ||||||
16 | verwirrten Begriffe zu zerstreuen und das durch verglichene Ideen entspringende | ||||||
17 | allgemeine Erkenntniß von den sinnlichen Eindrücken abzusondern, | ||||||
18 | abgehalten, giebt sie lieber einem übereilten Beifalle Platz | ||||||
19 | und beruhigt sich in dem Besitze einer Einsicht, welche ihr die Trägheit | ||||||
20 | ihrer Natur und der Widerstand der Materie kaum von der Seite | ||||||
21 | erblicken lassen. | ||||||
22 | In dieser Abhängigkeit schwinden die geistigen Fähigkeiten zugleich | ||||||
23 | mit der Lebhaftigkeit des Leibes: wenn das hohe Alter durch den geschwächten | ||||||
24 | Umlauf der Säfte nur dicke Säfte in dem Körper kocht, | ||||||
25 | wenn die Beugsamkeit der Fasern und die Behendigkeit in allen Bewegungen | ||||||
26 | abnimmt, so erstarren die Kräfte des Geistes in einer | ||||||
27 | gleichen Ermattung. Die Hurtigkeit der Gedanken, die Klarheit der | ||||||
28 | Vorstellungen, die Lebhaftigkeit des Witzes und das Erinnerungsvermögen | ||||||
29 | werden kraftlos und erkalten. Die durch lange Erfahrung eingepfropften | ||||||
30 | Begriffe ersetzen noch einigermaßen den Abgang dieser | ||||||
31 | Kräfte, und der Verstand würde sein Unvermögen noch deutlicher verrathen, | ||||||
32 | wenn die Heftigkeit der Leidenschaften, die dessen Zügel nöthig | ||||||
33 | haben, nicht zugleich und noch eher als er abnehmen möchten. | ||||||
34 | Es erhellt demnach hieraus deutlich, daß die Kräfte der menschlichen | ||||||
35 | Seele von den Hindernissen einer groben Materie, an die sie | ||||||
36 | innigst verbunden werden, eingeschränkt und gehemmt werden; aber es | ||||||
37 | ist etwas noch Merkwürdigeres, daß diese specifische Beschaffenheit des | ||||||
[ Seite 356 ] [ Seite 358 ] [ Inhaltsverzeichnis ] |