Kant: AA I, Allgemeine Naturgeschichte und ... , Seite 319 |
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01 | Laßt uns also unser Auge an diese erschreckliche Umstürzungen | ||||||
02 | als an die gewöhnlichen Wege der Vorsehung gewöhnen und sie sogar | ||||||
03 | mit einer Art von Wohlgefallen ansehen. Und in der That ist dem | ||||||
04 | Reichthume der Natur nichts anständiger als dieses. Denn wenn ein | ||||||
05 | Weltsystem in der langen Folge seiner Dauer alle Mannigfaltigkeit | ||||||
06 | erschöpft, die seine Einrichtung fassen kann, wenn es nun ein überflüssiges | ||||||
07 | Glied in der Kette der Wesen geworden: so ist nichts geziemender, | ||||||
08 | als daß es in dem Schauspiele der ablaufenden Veränderungen | ||||||
09 | des Universi die letzte Rolle spielt, die jedem endlichen Dinge | ||||||
10 | gebührt, nämlich der Vergänglichkeit ihr Gebühr abtrage. Die Natur | ||||||
11 | zeigt, wie gedacht, schon in dem kleinen Theile ihres Inbegriffes diese | ||||||
12 | Regel ihres Verfahrens, die das ewige Schicksal ihr im Ganzen vorgeschrieben | ||||||
13 | hat, und ich sage es nochmals, die Größe desjenigen, was | ||||||
14 | untergehen soll, ist hierin nicht im geringsten hinderlich, denn alles, | ||||||
15 | was groß ist, wird klein, ja es wird gleichsam nur ein Punkt, wenn | ||||||
16 | man es mit dem Unendlichen vergleicht, welches die Schöpfung in | ||||||
17 | dem unbeschränkten Raume die Folge der Ewigkeit hindurch darstellen | ||||||
18 | wird. | ||||||
19 | Es scheint, daß dieses den Welten, so wie allen Naturdingen verhängte | ||||||
20 | Ende einem gewissen Gesetze unterworfen sei, dessen Erwägung | ||||||
21 | der Theorie einen neuen Zug der Anständigkeit giebt. Nach demselben | ||||||
22 | hebt es bei den Weltkörpern an, die sich dem Mittelpunkte des Weltalls | ||||||
23 | am nächsten befinden, so wie die Erzeugung und Bildung neben | ||||||
24 | diesem Centro zuerst angefangen: von da breitet sich das Verderben | ||||||
25 | und die Zerstörung nach und nach in die weiteren Entfernungen aus, | ||||||
26 | um alle Welt, welche ihre Periode zurück gelegt hat, durch einen allmählichen | ||||||
27 | Verfall der Bewegungen zuletzt in einem einzigen Chaos zu | ||||||
28 | begraben. Andererseits ist die Natur auf der entgegengesetzten Grenze | ||||||
29 | der ausgebildeten Welt unablässig beschäftigt, aus dem rohen Zeuge | ||||||
30 | der zerstreueten Elemente Welten zu bilden, und indem sie an der | ||||||
31 | einen Seite neben dem Mittelpunkte veraltet, so ist sie auf der andern | ||||||
32 | jung und an neuen Zeugungen fruchtbar. Die ausgebildete Welt befindet | ||||||
33 | sich diesemnach zwischen den Ruinen der zerstörten und zwischen | ||||||
34 | dem Chaos der ungebildeten Natur mitten inne beschränkt, und wenn | ||||||
35 | man, wie es wahrscheinlich ist, sich vorstellt, daß eine schon zur Vollkommenheit | ||||||
36 | gediehene Welt eine längere Zeit dauren könne, als sie bedurft | ||||||
37 | hat, gebildet zu werden: so wird ungeachtet aller der Verheerungen, | ||||||
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