Kant: AA I, Die Frage, ob die Erde veralte, ... , Seite 200

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 nicht in gehörige Fluthbette eingeschlossen, sie überschwemmten noch die      
  02 Ebenen, bis sie sich selber endlich in abgemessene Canäle beschränkten      
  03 und einen einförmigen Abhang von ihrem Ursprunge an bis zu dem      
  04 Meere zubereiteten. Nachdem die Natur diesen Zustand der Ordnung      
  05 erreicht und sich darin befestigt hatte, so waren alle Elemente auf der      
  06 Oberfläche der Erden im Gleichgewichte. Die Fruchtbarkeit breitete      
  07 ihre Reichthümer auf allen Seiten aus, sie war frisch, in der Blüthe      
  08 ihrer Kräfte, oder, wenn ich mich so ausdrücken darf, in ihrem männlichen      
  09 Alter.      
           
  10 Die Natur unserer Erdkugel hat in dem Fortschritte ihres Alters      
  11 in allen ihren Theilen nicht eine gleiche Stufe erreicht. Einige Theile      
  12 derselben sind jung und frisch, indessen daß sie in andern abzunehmen      
  13 und zu veralten scheint. In gewissen Gegenden ist sie roh und nur      
  14 noch halb gebildet, da andere in der Blüthe ihres Wohlstandes sich      
  15 befinden und noch andere nach Zurücklegung ihrer glücklichen Periode      
  16 sich schon allgemach dem Verfall nähern. Überhaupt sind die hohen      
  17 Gegenden des Erdbodens die ältesten, die zuerst aus dem Chaos erhoben      
  18 und zur Vollendung der Ausbildung erlangt sind, die niedrige      
  19 sind jünger und haben die Stufe ihrer Vollkommenheit später erreicht.      
  20 Nach dieser Ordnung wird daher jene das Loos zuerst treffen sich dem      
  21 Verderben wiederum zu näheren, indessen daß diese von ihrem Schicksale      
  22 noch weiter entfernt sind.      
           
  23 Die Menschen haben die höchsten Gegenden des Erdbodens zuerst      
  24 bewohnt; sie sind nur spät in die Ebenen hinabgestiegen und haben      
  25 selbst Hand anlegen müssen, die Ausarbeitung der Natur zu beschleunigen,      
  26 welche für die schnelle Vermehrung derselben zu langsam in      
  27 ihrer Ausbildung war. Ägypten, dieses Geschenk des Nilstroms, war      
  28 in seinem obersten Theile bewohnt und volkreich, als das halbe Unterägypten,      
  29 das ganze Delta und die Gegend, da der Nil durch Absetzung      
  30 des Schlammes den Boden seines Auslaufs erhöhte und sich die Ufer      
  31 eingeschränkter Fluthbette aufwarf, noch ein unbewohnterer Morast war.      
  32 Jetzt scheint die Gegend des alten Thebais wenig mehr von derjenigen      
  33 ausnehmenden Fruchtbarkeit und Blüthe an sich zu haben, die seinen      
  34 Wohlstand so außerordentlich machte; dagegen ist die Schönheit der      
  35 Natur in die niedrige und jüngere Theile des Landes hinabgestiegen,      
  36 welche anjetzt den Vorzug der Fruchtbarkeit vor den hohen behaupten.      
  37 Die Gegend von Niederdeutschland, die eine Zeugung des Rheins ist,      
           
     

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