Kant: AA I, Untersuchung der Frage, ob die ... , Seite 186 |
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01 | Urkunde so dunkel und ihre Nachrichten in Ansehung der gegenwärtigen | ||||||
02 | Frage so wenig zuverlässig: daß die Theorie, die man sich erdenken | ||||||
03 | möchte, um sie mit den Gründen der Natur übereinstimmend | ||||||
04 | zu machen, vermuthlich sehr nach Erdichtungen schmecken würde. Ich | ||||||
05 | will mich also deshalb unmittelbar an die Natur halten, deren Verbindungen | ||||||
06 | den Erfolg deutlich bezeichnen und Anlaß geben können, | ||||||
07 | die Bemerkungen aus der Geschichte auf die rechte Seite zu lenken. | ||||||
08 | Die Erde wälzt sich unaufhörlich um ihre Achse mit einer freien | ||||||
09 | Bewegung, die, nachdem sie ihr einmal zugleich mit ihrer Bildung | ||||||
10 | eingedrückt worden, fortan unverändert und mit gleicher Geschwindigkeit | ||||||
11 | und Richtung in alle unendliche Zeiten fortdauren würde, wenn | ||||||
12 | keine Hindernisse oder äußerliche Ursachen vorhanden wären, sie zu | ||||||
13 | verzögern, oder zu beschleunigen. Ich unternehme mir darzuthun, daß | ||||||
14 | die äußerliche Ursache wirklich vorhanden sei und zwar eine solche, | ||||||
15 | die die Bewegung der Erde nach und nach verringert und ihren Umschwung | ||||||
16 | in unermeßlich langen Perioden gar zu vernichten trachtet. | ||||||
17 | Diese Begebenheit, die sich dereinst zutragen soll, ist so wichtig und | ||||||
18 | wundersam, daß, obgleich der fatale Zeitpunkt ihrer Vollendung so | ||||||
19 | weit hinausgesetzt ist, daß selber die Fähigkeit der Erdkugel bewohnt | ||||||
20 | zu sein und die Dauer des menschlichen Geschlechts vielleicht nicht an | ||||||
21 | den zehnten Theil dieser Zeit reicht, dennoch auch nur die Gewißheit | ||||||
22 | dieses bevorstehenden Schicksals und die stätige Annäherung der Natur | ||||||
23 | zu demselben ein würdiger Gegenstand der Bewunderung und Untersuchung | ||||||
24 | ist. | ||||||
25 | Wenn der Himmelsraum mit einer einigermaßen widerstehenden | ||||||
26 | Materie erfüllt wäre, so würde der tägliche Umschwung der Erde an | ||||||
27 | derselben eine unaufhörliche Hinderniß antreffen, wodurch seine | ||||||
28 | Schnelligkeit sich nach und nach verzehren und endlich erschöpfen müßte. | ||||||
29 | Nun ist aber dieser Widerstand nicht zu besorgen, nachdem Newton | ||||||
30 | auf eine überzeugende Art dargethan hat, daß der Himmelsraum, der | ||||||
31 | sogar den leichten kometischen Dünsten eine freie, ungehinderte Bewegung | ||||||
32 | verstattet, mit unendlich wenig widerstehender Materie erfüllt | ||||||
33 | sei. Außer dieser nicht zu vermuthenden Hinderniß ist keine äußere | ||||||
34 | Ursache, die auf die Bewegung der Erde einen Einfluß haben kann, | ||||||
35 | als die Anziehung des Mondes und der Sonne, welche, da sie das | ||||||
36 | allgemeine Triebwerk der Natur ist, woraus Newton ihre Geheimnisse | ||||||
37 | auf eine so deutliche als ungezweifelte Art entwickelt hat, einen | ||||||
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