Kant: AA I, Gedanken von der wahren ... , Seite 008

     
           
 

Zeile:

 

Text (Kant):

 

 

 

 
  01 von dieser Art war, obzwar bei einer andern Gelegenheit, einem großen      
  02 Manne des Alterthums sehr ruhmwürdig. Timoleon wurde ungeachtet      
  03 der Verdienste, die er um die Freiheit von Syrakus hatte,      
  04 einsmals vor Gericht gefordert. Die Richter entrüsteten sich über die      
  05 Vermessenheit seiner Ankläger. Allein Timoleon betrachtete diesen      
  06 Zufall ganz anders. Ein solches Unternehmen konnte einem Manne      
  07 nicht mißfallen, der sein ganzes Vergnügen darin setzte sein Vaterland      
  08 in der vollkommensten Freiheit zu sehen. Er beschützte diejenige, die      
  09 sich ihrer Freiheit sogar wider ihn selber bedienten. Das ganze      
  10 Alterthum hat dieses Verfahren mit Lobsprüchen begleitet.      
           
  11 Nach so großen Bemühungen, die sich die größten Männer um      
  12 die Freiheit des menschlichen Verstandes gegeben haben, sollte man      
  13 da wohl Ursache haben zu befürchten, daß ihnen der Erfolg derselben      
  14 mißfallen werde?      
           
  15
III
     
           
  16 Ich werde mich dieser Mäßigung und Billigkeit zu meinem Vortheil      
  17 bedienen. Allein ich werde sie nur da antreffen, wo sich das      
  18 Merkmal des Verdienstes und einer vorzüglichen Wissenschaft hervorthut.      
  19 Es ist außer diesem noch ein großer Haufe übrig, über den das      
  20 Vorurtheil und das Ansehen großer Leute annoch eine grausame Herrschaft      
  21 führt. Diese Herren, die gerne für Schiedsrichter in der Gelehrsamkeit      
  22 angesehen sein wollten, scheinen sehr geschickt zu sein von      
  23 einem Buche zu urtheilen, ohne es gelesen zu haben. Um es dem      
  24 Tadel preis zu geben, darf man ihnen nur den Titel desselben zeigen.      
  25 Wenn der Verfasser unbekannt, ohne Charakter und Verdienste ist, so      
  26 ist das Buch nicht werth, daß die Zeit damit verdorben werde; noch      
  27 mehr aber wenn er sich großer Dinge unternimmt, berühmte Männer      
  28 zu tadeln, Wissenschaften zu verbessern und seine eigene Gedanken der      
  29 Welt anzupreisen. Wenn es vor dem Richterstuhle der Wissenschaften      
  30 auf die Anzahl ankäme, so würde ich eine sehr verzweifelte Sache      
  31 haben. Allein die Gefahr macht mich nicht unruhig. Dies sind      
  32 diejenige, die, wie man sagt, nur unten am Parnaß wohnen, die kein      
  33 Eigenthum besitzen und keine Stimme in der Wahl haben.      
           
  34
IV
     
           
  35 Das Vorurtheil ist recht für den Menschen gemacht, es thut der      
  36 Bequemlichkeit und der Eigenliebe Vorschub, zweien Eigenschaften, die      
           
     

[ Seite 007 ] [ Seite 009 ] [ Inhaltsverzeichnis ]